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#literatur#stille#leidenschaft

Emma

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Emma | story.one

Noch ist das Gras fast grün. Die Buchenblätter färben sich schon rostbraun. Bald wird es unwirtlich. Vielleicht ist heute der letzte Tag, an dem ich es tun kann: Hier liegen und lesen. So oft ich kann, komme ich hierher. Ich weiß, es geziemt sich nicht für ein Mädchen, so allein hier draußen. Doch ich bin nicht allein, hier finde ich zu mir, bin in meiner Welt, im Schatten der Buche, sie bietet Ruhe und Versteck zugleich. Die Freuden des Heimlichen, der Genuss des Verbotenen. Würde ein Maler mich hier entdecken, er wäre vermutlich entzückt über das anmutige Motiv, doch ich bin sicher hier, die Buche hält ihr Blätterdach schützend über mich. Dieses eine Buch zu lesen, bin ich gekommen, komme ich wieder und wieder. Ich mache mich schön zum Lesen, schön für dieses Buch, weil ich es liebe. Jeder Satz überrascht mich, als läse ich ihn zum ersten Mal. Und irgendwie stimmt das auch, denn Schreiben und Lesen sind zwei verschiedene Dinge. Jeden einzelnen Satz in diesem Buch habe ich selbst geschrieben, hier unter dieser Buche, im letzten Sommer. Und in diesem Sommer bin ich gekommen, um es zu lesen, ich werde es nicht ganz zu Ende lesen können vor den Herbststürmen und der Winterkälte, das Lesen dauert länger als das Schreiben, ich staune über die Sätze, die aus meiner Feder geflossen waren, das Staunen dauert, es dehnt die Zeit.

Möglicherweise denkt es so, das Mädchen in Blau, das lesend auf der Wiese unter der Buche liegt. Möglicherweise liest es auch nur und denkt nicht, das Mädchen aus dem Gemälde von Charles Edward Perugini: „Idle Moments“, Momente der Muße. Ich weiß es nicht.

Aber ich stelle mir vor, dass SIE damals so gedacht haben könnte: die eine, die heimlich schrieb. Die Papier und Feder schnell mit einem Nähzeug zudeckte, sobald jemand ins Zimmer kam. Die nur drinnen schreiben konnte und nicht draußen unter der Buche, wo sie wohl neugierigen Blicken und Fragen ausgesetzt gewesen wäre. So möchte ich mir ihre Gedanken vorstellen, draußen, auf der Wiese, unter der Buche.

Ich spreche von Jane Austen. Sie hat „Emma“ geschrieben, heimlich, wie alles, und doch gelangte es irgendwie an die Öffentlichkeit.

Ich habe „Emma“ gelesen, in meinem ersten Semester in Tübingen. Aber nicht in meinem Zimmerchen oder in der Bibliothek, nein, oben bei der Wurmlinger Kapelle, einen langen, sehr langen Spaziergang von Tübingen entfernt, durch den Wald, einen Höhenzug entlang. Wieder und wieder zog es mich dorthin. Ich war alleine mit mir und dem Buch. Kaum noch kann ich mich erinnern, ob ich auf der Wiese unter einem Baum saß, aber es muss so gewesen sein, zweifellos. Denn ich suche gern den Schatten auf, heute noch. Es war mein erster dicker Roman auf Englisch und ich habe jeden Satz geliebt, auch wenn ich nicht alle Wörter verstanden habe, genau genommen, nur wenige. Und ich habe mir Zeit gelassen für „Emma“, einen ganzen Sommer lang.

© Brigitte Hieber 2020-12-02

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