Entschleunigung
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Mein Lieblingswort ist „gschwind“. Dabei hasse ich „schnell, schnell“. Aber das Wort flattert ungefragt in meine Sätze: „Ich muss das nur noch gschwind fertigschreiben!“ „Kannst du gschwind …?“ Das Resultat ist ständig dasselbe: Klang und Rhythmus des Satzes haben gewonnen – die Aktion hat gelitten. Je gschwinder, desto schiefer geht es. Ich sollte „entgschwinden“ erfinden.
Paradoxerweise sind ausgerechnet unsere Radreisen, die viele als anstrengend ansehen, ein Beispiel für praktizierte Entschleunigung.
Das fängt mit meinem Fahrrad an: Es fährt nicht schnell. Außer bergab. Und bergauf wird geschoben. Das entschleunigt enorm. Zusammen mit belegten Broten, Salatblättern, Radieschen, Paprika, Zwiebeln. Und Fotosessions, selbstredend.
Hinweisschilder sind zum Glück oft so kryptisch, dass Karten zurate gezogen werden müssen. Ich gestehe, ich bin vernarrt in Karten. Mein größtes Erfolgserlebnis: Wenn die Realität mit der Karte übereinstimmt!
Eine aufgefaltete Karte lockt außerdem hilfreiche Geister an. Hierbei ergeben sich interessante Diskussionen. Eine Stunde später sind wir kein Stück weiter, haben dafür aber jemanden kennengelernt.
Auch die Flüsse tragen zur Entschleunigung bei: Fähren dürfen von Hand betrieben werden, von unserer.
Als unverhoffte Entschleuniger erweisen sich Kinder: Die uns an heißen Tagen ein Glas saure Zitronenlimonade anbieten; die uns an einem Regentag mit Schirmen zum nächsten Unterstand geleiten und heißen Kaffee servieren. Oder Supermarktkunden, die uns aufheitern wollen, wenn wir wegen eines Wolkenbruchs im Vorraum Zuflucht nehmen müssen: „Sollen wir Ihnen ein Shampoo mitbringen?“ Und Katzen, die unseren Weg kreuzen, na ja, sich zuerst einmal hinsetzen und sich putzen.
Und falls alles nichts hilft, hilft ein Platten. Um fair zu sein: Für mich ist es Müßiggang, für meinen Mann ist es Arbeit.
Auch echte Notfälle können passieren, die ein sofortiges Anhalten und Handeln erforderlich machen, wie die Rettung eines Eichhörnchens: Eines sehr trockenen Sommers kauert ein Eichhörnchen apathisch mitten auf der Straße, wohl kurz vor dem Verdursten. Wir bringen es am Straßenrand in Sicherheit, versorgen es mit Wasser und Apfelstückchen, die es gierig annimmt.
Zu guter Letzt unser Entschleunigungshit: Die Fahrradvase. Vor langer Zeit entdeckt und erstanden. Unersetzlich auf jeder Tour. Am Lenker befestigt. Mit frischen Blumen bestückt. Das bedeutet: spazieren gucken, Rad abstellen, pflücken, Wasser eingießen, arrangieren. Leichtigkeit im Gepäck. Unterwegs wird die Fahrradvase selten wahrgenommen oder kommentiert. Nur manche, wie die Radlerinnen, die wir an der Oder treffen, schmunzeln. Und in Wilhelmshaven hält uns eine Frau bei strömendem Regen auf der Brücke an und fragt: „Was ist das denn? Das will ich auch!“
Wahrlich ein Wunder, dass wir überhaupt je ans Ziel gelangen, nach einigen Hundert Kilometern. Völlig entspannt und entgschwindet.
© Brigitte Hieber 2020-10-06
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