Feuerland
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Es war einmal — da kam mir das Lesen abhanden. Das lichterlohe. Das mich verbrennt, läutert, neue Leben entwirft, Anker wirft.
Ich sitze am einstigen Feuer. Greife hinein. Mit eisigen Fingern — wenn es wahr ist, was Kafka sagt: Für das gefrorene Meer in uns sei ein Buch die Axt. Ich ziehe ein Buch nach dem anderen heraus:
Das zerfledderte Märchenbuch: Die kleine Meerjungfrau, das bin ich.
Das Büchlein mit Sätzen von Hesse: Meine Schulfreundin und ich diskutieren im Bus über jeden einzelnen und wissen nun, wie Leben geht. Mit der Arroganz der Jugend wissen wir noch nicht, dass es auch gelebt werden will. Mit Hesses Steppenwolf vor den nächtlichen Fenstern stehe ich erst später.
Ich spüre die Sonne, die dem Fremden von Camus zum Verhängnis wird, spüre den Stein von Sisyphos, die schwarze Gleich-Gültigkeit von Sartres Romanfiguren, in Gesellschaft von Chandler und Baudelaire. Nein, ich sitze nicht mit ihnen in verrauchten Kneipen, lese sie zuhause auf dem Sofa. Doch in der Kneipe diskutiere ich bis in die Morgenstunden über Carlos Castaneda, mit einem guten Freund. Und in vielen Theatern warte ich abends auf Godot, obwohl ich weiß, dass er nicht kommt.
In den Flammen leuchten Namen auf: Kaschnitz, Mascha Kaléko, Iris Murdoch, Isabel Allende, all die schreibenden Frauen der Welt.
All die Bücher …
Ziehe meine Hände zurück. Ende! Ende der Romane und Stücke. Das war, als das Leben die Fiktion überholte. Ich suche die Wahrheit in den Philosophien. Da gibt es Flüsse, die tragen. Flüsse, die mich wieder ausspucken.
Nur in Kursen gebe ich Literatur weiter. Dürrenmatts Richter und sein Henker begleiten uns jahrelang. Ich kenne jeden Satz. Hölderlins „Hälfte des Lebens“ übersetzen wir in alle Sprachen der Teilnehmer, registrieren in allen Sprachen den Wechsel des Tons, nur auf Chinesisch nicht. Wir lachen. Verzeihung.
Überhaupt, Gedichte! Die Glut birgt sie noch alle. Ich höre, was Laute bewirken, höre Ernst Jandl live sprechen: „Schtzgrmm“. Im Chor sprechen wir Texte von Paul Celan. „In Sehnsucht eingehüllt“ erschüttert mich die junge Selma Meerbaum-Eisinger. Meine Lehrerin, eine 80jährige Dame, lässt mich Balladen auswendig lernen, ich versinke im Schmerz von Fontanes „Gorm Grymme“. Und wenn sie mir Rilke vorspricht, diese letzte Zeile „Du musst dein Leben ändern“, dann trifft es mich wie ein Steinschlag: Er meint mich.
Es knistert und feurige Buchstaben erheben sich aus einem Blatt Papier. Meine Handschrift, datiert 29.4. 1997:
„Hommage an Erich Fried.
Nichts ist, was es ist! Ich möchte es an die Mauern schreien, in die Himmel brennen.
Wer reißt mir den Schleier von den Dingen? Wer stellt mir die Welt auf den Kopf, sodass ich begreife?
Manchmal fällt ein Blatt vom Baum, fällt ein Licht herunter. Manchmal kriecht eine Ameise über den Boden, manchmal spüre ich etwas, manchmal weiß ich es. Das ist alles.“
Ich sitze am einstigen Feuer. Meine Hände sind warm. Die Luft ist würzig und leicht. Wenn ich heute lese, lese ich Schönheit.
© Brigitte Hieber 2021-05-09
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