Ge-Zeiten
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Am Horizont krümmte sich eine Linie. Die Erde entstand. Am Anfang war das Watt. Ewige Fläche, im Gegenlicht eine nahezu nassschwarzglänzende Schneelandschaft durchzogen von Rippeln. Der Himmel behauptete sich mit wechselnden Darbietungen in Rot- und Lila-Tönen, jagte gleichsam geriffelte Wolkenfetzen durch die leere Weite. Jetzt wurde die Sonne in die Knie gezwungen. Es wurde kühl. Langsam verschwand die Lücke zwischen Amrum und Sylt. In ein paar Stunden würde das Wasser zurückkommen und durch die Lücke hereinströmen.
Aber noch war Zeit. Nur wenige Menschen waren hier. Am Strand von Föhr. Fotografierten, gingen spazieren. Zwei Silhouetten in der Ferne, die ersten oder die letzten Menschen.
Allabendlich war ich hier. Das Abendprogramm in der Reha-Klinik floh ich.
Eine letzte Zigarette im Dunkeln.
Zurück in die Zivilisation. Die sich so nannte.
Meine Heilung fand hier statt, am Watt. Jeden Abend um acht, 4 Wochen lang. Damals 2014. Unser erster gemeinsamer Nordseebesuch.
In diesem Moment, in dem ich dies schreibe, gluckst mir vom Boden einer bauchigen Teetasse, dem „Fedderwardersieler Pott“, einem Mitbringsel vom diesjährigen Nordseeurlaub 2022, ein Wattwurm entgegen: „Und täglich grinst der Wattwurm!“
Auch unser zweiter Besuch 2022 stand unter dem Stern der Heilung. Auf dem überfluteten Parkplatz vor dem Naturparkhaus Wattenmeer in Fedderwardersiel hatte ich ein Dejà- vu:
Ebenfalls im strömenden Regen war ich vor wer weiß wie vielen Jahren hier auf dem Campingplatz gestrandet, als ich von Bremerhaven aus glücklich alleinreisend meine Weserradtour startete. Die Besitzer gaben mir damals ein trockenes Zimmer,für meine Zeltsachen einen geheizten Kellerraum. Mich selbst nahm eine ältere Dame unter die Fittiche, lud mich jeden Morgen in ihren Wohnwagen zum Frühstück ein und wünschte mir einen„guten“Mann, wie sie sagte. Der kam 2004.
Als ich damals hier war, gab es rund um den Hafen nur Schautafeln zum Naturpark Wattenmeer – damals noch nicht Weltnaturerbe -„Ja, dat war so“, bestätigte die Frau im Museum, das erst 1994 gegründet wurde. Damit hatte ich den Anfangspunkt gefunden, als meine Liebe zum Watt geboren ward.
Nun stand ich also 2022 wieder am Hafen und studierte den Gezeiten-Baum, die Priele und Rinnen, die sich im offenen Meer vereinigten, und bemerkte mit zunehmendem Erstaunen meinen rätselhaften 10-Jahres-Tiden-Lebensrhythmus 1994-2004-2014. Gut, 2022 wurde er aufgehoben.
Die Wasserläufe des Ge-Zeiten-Baums verwandelten sich unversehens in Lebenslinien, die ich hier erzählen möchte. Doch was ist erzählenswert?, überlegte ich angesichts dieser unendlichen Weite. Ich möchte erzählen von den Begegnungen mit den Vogelfrauen zu unterschiedlichen Zeiten – die Chronologie ist durch die Schwälbin längst aufgehoben– und an unterschiedlichen Orten, wobei mich die Wasserläufe zu guter Letzt wieder ans Watt zurückführen werden, wo sich der Geschichten-Kreis sich schließen wird.
© Brigitte Hieber 2022-12-12
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