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Gedanken, nächtens

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Gedanken, nächtens | story.one

Jetzt bin also auch ich im falschen Film gelandet. Es war schließlich nur eine Frage der Zeit gewesen. Doch ist es wirklich der "falsche"? "Unwirklich" wäre das richtigere Wort. Wirklich?

Auch Kranksein ist Dasein.

Holladihi, holladiho ..., so dudelt es nächtens über meine Lippen. Leise und schwach natürlich, denn ich bin ja krank. Und dennoch - auch Hänschen klein und alle meine Entchen gesellen sich dazu. Macht Kranksein kindisch? Einfältig etwa? Diese Fragen stelle ich mir nicht ernsthaft, sie schwirren einfach als Begleitmusik kreuz und quer durch meinen Kopf.

Ist es nicht eher so, dass Erinnerungen wach werden an den Singsang meiner Oma, wenn sie die ganze Nacht an meinem Bett saß, unter den Augen des Engels an der Wand meine Wadenwickel wechselte, mir den Nachttopf hinstellte, Sauereien wegwischte und mir in den frühen Morgenstunden ein weichgekochtes Ei brachte, "iss!", es mache gesund, und ich glaubte ihr, auch wenn ich kein Eiweiß mochte und der Dotter zu schlabberig war.

Auch da war die Tür zum angrenzenden Zimmer vielleicht einen Spalt geöffnet und der Lichtschein, der hereinfiel, sprach Trost. So wie jetzt.

Holladihi, holladiho ... Wenn ich jodeln könnte, wäre das jetzt vielleicht hilfreich. Aber daran versuche ich mich mitten in der Nacht nicht. Denn ich bin ja krank.

Kranksein ist auch Fremdsein. Ist Unbekanntes. Ist Hineingeworfensein. Oder Herausgeworfenwerden. Wo ist Norden? Wo ist Süden? Ich hätte lernen sollen, wie man sich mit einem Kompass zurechtfindet. Auf dieser Expedition in ein fernes Land, dabei so nah. Wäre der Kompass überhaupt nützlich? Ob ich gut ausgerüstet bin, wird sich weisen. Alte Fertigkeiten kann ich wegschmeißen. Neue sind noch nicht da.

Oh sicher, Kranksein ist auch Vertrautsein. Alte Freunde werden stürmisch begrüßt und umarmt. Doch nicht immer möchten sie sich aufhalten. Sie gehören vielleicht gar nicht hierher, ins Packeis, in die flirrende Wüste.

Kranksein ist Dasein. Ist Menschsein. Ein feines Band aus Espenblättern verbindet uns.

Geschenke des Lebens dürfen vor der Tür abgegeben werden. Und vielleicht schwingt sich doch noch ein kleiner Jodler auf und fliegt nach draußen.

Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet das Fremdsein Grenzen auflöst?

Es wird Morgen.

© Brigitte Hieber 2022-10-29

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