Herbstland
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Dienstag, 13. Oktober 2020
Nanu, der kleine gescheckte Hund, der sich für ein Auto hält, kommt uns heute gar nicht entgegen. Der, der vermutlich zu dem großen Bauernhof außerhalb des Dorfes gehört. Was der Grund dafür sein mag, warum sich der Kleine so groß dünkt. Wie dem auch sei, er hat die verrückte Angewohnheit, unvermittelt um die Kurve zu schießen, mitten auf der Straße, so rasant, dass die Ohren schier abheben und uns ein Abbremsen angeraten scheint. Heute ist wohl nicht sein Wetter.
Es ist nasskalt geworden. Über eine Woche waren wir deshalb nicht mehr auf unserem Weg. Außerdem hat man ihm den letzten Charme geraubt, den er als Forstweg noch annähernd besessen hatte: Er ist asphaltiert worden. Zum Glück nur die oberen Meter. Dennoch, mit den Bauarbeiten sind wiederum einzelne Werke verschüttgegangen.
Ein Stück Asphalt also. Im spärlichen Spätnachmittagslicht glänzt die schwarznasse Fläche fast magisch. Regenrinnsale vereinen sich zu Wasserstraßen, auf denen gelbe Ahornblattboote hinabgleiten.
Wir gehen nicht weit, schwenken nach links in einen schmalen Pfad. Unmittelbar hinter der Gabelung hat sich eine Werke-Gemeinschaft angesiedelt: die „Erdfühler“, die „Baumkoralle“ und in unserer Geschichtenecke die „Reisegruppe mit Igel“. Ein querliegender Ast als Zug beherbergt den Igel, der nach und nach Gesellschaft bekommen hat durch Mitreisende und blinde Passagiere. Nun kommt eine „Tannenzweigbedachung“ hinzu.
„Wenn die Zeit Anlauf nimmt für die Umkehr …“, hören wir eine Stimme.
„… und wo der Tag seinen Mantel enger zieht, die Dämmerstunden sich ausdehnen und die Nacht sich ihr weites Reich zurückerobert, …“
Wer spricht da? Ich tippe auf den Igel. Doch der blickt ungerührt geradeaus.
„… beginnt mein Land, das Herbstland.“
Da lugt er zwischen den Reisenden hervor, fast schelmisch: Natürlich, der Magier des Herbstlandes. Wir wissen, dass er eine Schwäche für Geschichten hat. Da sitzt er gern mittendrin.
Er geleitet uns hinaus ins Offene, schwingt seinen Abendmantel über den Himmel und lässt uns einen Blick auf die Wolkenschieberin erhaschen. Sie blinzelt uns zu. Wir wissen, wie lange sie sich schon um die Anerkennung ihrer Wolkenauftürmkunst bemüht. Den ganzen Sommer war sie über die blauen Himmel gefegt, zusammen mit ihrem Gefährten Windwindwind, stets auf der Jagd nach hauchigen Wolkenfetzchen. Anstupsen, herbeirollen, zusammenschieben ...
Verjüngt und angefüllt mit frischen Bildern fahren wir Richtung Dorf.
„Vorsicht, der Hund!“
Zumindest sitzt er. Wir fahren Schritttempo. Sitzt am Straßenrand. Guckt uns groß an: Was wollt ihr hier? Das ist meine Straße.
Da heute ein verwunschener Tag ist: Womöglich mag er uns.
© Brigitte Hieber 2020-10-13
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