skip to main content

#fremdewelten#magie#mutmacher

Hinter dem Spiegel

  • 336
Hinter dem Spiegel | story.one

Es gibt Zeiten, in denen Nachdenken nicht weiterbringt. Da tut ein Aufenthalt in der Natur not. Das lüftet die Gehirnräume durch.

Oder ich unternehme eine Art Reise. Wie soll ich sie nennen? Eine Visionsreise? Eine Sehnsuchtsreise? Das trifft es noch nicht. Auf jeden Fall ist es eine Reise ohne Koffer, ohne irgendwelche Reiseutensilien. Ausgestattet nur mit einer Frage und – ja, das trifft es – mit dem Seil meiner Intuition, an dem ich mich von Wort zu Wort, von Ton zu Ton, von Bild zu Bild hangle, möglicherweise von Duft zu Duft. Ich könnte es auch das Seil meiner Freude nennen. Die Freude ist ein sehr feines Messinstrument, das anzeigt, ob ich in der Spur bleibe. Ich schaue, wohin mich das führt, wenn ich so durch meine inneren Räume streife, …

… und stoße auf eine solche Reisebeschreibung:

NOVEMBER 2006

D e r V e r s u c h

Ich stehe vor dem Spiegel und … gehe hindurch.

Diesmal wage ich es. Vieles habe ich gehört vom Land jenseits des Spiegels. Aber alles war sehr vage. Diesmal will ich nachsehen. Was dahintersteckt. Ob es sich lohnt.

Außer einem leisen, sehr leisen Knistern höre ich nichts. Und sehen kann ich vor lauter Schwärze erst einmal gar nichts.

Einen Fuß vor den anderen, sachte, ertaste ich die Bodenoberfläche. Nein, so ist es nicht, eher umgekehrt: Der Boden ertastet meine Füße. Er wölbt sich, glättet sich wieder, wogt. Die Füße können nichts falsch machen, können nicht fehlgehen. Der Boden kümmert sich darum.

Genauso wenig kann ich sagen: Ich atme. Nein, die Luft atmet mich. Ich sehe nicht, die Bilder sehen mich. Ich weiß nicht, wie das geht. Die Bilder weben mich ein in einen wehenden Teppich. Die Gerüche, der Geschmack auf der Zunge … Es ist die Welt, die meine Sinne erspürt. Die Hände, wo sind meine Hände? Dinge fliegen mir zu, luftige Dinge, sie ertasten meine Hände.

Sprechen müsste möglich sein. Aber was sage ich, und zu wem? Ich versuche Worte. Die Stille ist stärker. Worte formen sich auf mich zu. Lauschende Worte.

Für heute ist es genug. Das leise, sehr leise Knistern zeigt an, dass ich durch den Spiegel wieder hinausgetreten bin. Ich stehe vor dem Spiegel und sage: „Morgen komme ich wieder.“

Der Spiegel lächelt.

Ob es sich gelohnt hat? Hm, ich weiß jetzt, wie es ist. Hinter dem Spiegel.

Der Spiegel schließt die Augen.

FRÜHJAHR 2020

Ich versuche, diese Reise von damals ernst zu nehmen. Herauszufinden, was dahintersteckt. Ich versuche, die Dinge umzukehren. Die Welt auf den Kopf zu stellen. Das Undenkbare zu leben. Mich der Welt zu überlassen …

© Brigitte Hieber 2020-05-14

mutmachereigenartigfremdeweltenabenteuerpurMEHR zwischen HIMMEL und ERDEReisenUnsichtbare WeltenAlltagkreisel: Dreh den Spieß mal um! Just Fiction!Therapie-PoesieDinge und ihre GeschichtenWas wäre wennPhilosophie & Fiktion

Kommentare

Gehöre zu den Ersten, die die Geschichte kommentieren

Jede*r Autor*in freut sich über Feedback! Registriere dich kostenlos,
um einen Kommentar zu hinterlassen.