Hoffnung ist ein dünnes Blatt
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Nur Mut, hatte ich zu mir gesagt. Und war aufgestiegen. Aufs grüne Band. So wackelig alles.
Auf den Wiesen sammeln sich die Störche, bereit zum Abflug.
Ein erster Schritt.
Sie heben ab, begeben sich auf ihren waghalsigen Flug gen Süden.
Ein zweiter. Ich hatte es für eine gute Idee gehalten. Das Balancieren auf der Slackline. Den Körper überrumpeln. Gehen zwischen Himmel und Erde. Denn das Gehen auf der Erde ist schwer – das sagte ich bereits. Ich bin nicht geboren für nur ein Element. Aus dem Schweben war nichts geworden. Und fliegen? Nur als Kind im Traum. Da war ich von der riesigen Buche aus, die zwischen Omas Haus und dem Friedhof stand, geflogen. Manchmal jedoch gefallen, war aufgewacht.
Sie fliegen, sie erinnern sich. 10 000 Kilometer warten auf sie.
Grün liegt das Band nun auf dem Boden. Schlängelt sich zwischen Apfelbaum und Tränenkiefer durchs Gras. Ich hatte aufgeben müssen. Mit ein bisschen Übung hätte ich es locker geschafft. Im Traum hatte es einmal fast geklappt. Ich war übers Seil getanzt. Leichtfüßig. Vielleicht einen Meter über der Erde. Das eine Ende war an der Hausmauer festgemacht. Und das andere – da war der Fehler passiert – hatte in der Luft gehangen. Nicht, dass die Luft mich nicht getragen hätte. Der Fehler war gewesen, es für unmöglich zu halten.
Die Störche fliegen über die Alpen, fliegen schwer. Sie tragen die Geheimnisse des Vogelzugs mit sich. Und bald steht er an, der mühsame Flug übers Meer.
Alles ist möglich. Fliegende Flüsse ziehen über den Amazonas, führen mehr Wasser als der Fluss selbst und regnen dann über den Trockengebieten herab. Betrunkene Bäume hängen im Hochgebirge schief im Felsen und wachsen. Im Geäst des tropischen Kronendachs wurzeln Aufsitzerpflanzen. Und es gibt Tiere, die das Element wechseln. Der Pinguin fliegt unter Wasser. Die Klippenkrabbe klammert sich an die Klippen und trotzt der Brandung. Amphibien tragen die Doppelnatur schon im Namen. Es gibt sogar einen Fisch, der sein Element scheut und sich in Höhlen beheimatet. Die Libelle entsteigt den Tiefen des Wassers hinauf in die Lüfte. Schmetterlinge nennen sich Eulen und Landkärtchen. Forscher arbeiten an durchsichtigem Holz. Und ich beziehe Schnee aus dem norwegischen Meer, ein schmackhaftes Salz. „Und immer, wenn der Wind aus Feuerland wehte“, so erzählt die Wirtin unseres Gasthofes, „kroch die Kälte hoch.“
Schaffen sie es? Auf dem Meer können sie nicht landen, nicht Kraft tanken. Es braucht einen langen Atem, einen sehr langen, sehr sehr langen.
Ich sitze unter einem Felsbrocken auf der Grenze zwischen Land und Meer.
Sie schaffen es. Das Unmögliche.
Ich sitze unter einem Baum am Meer im Norden.
Störche in der Serengeti. Sie schlafen sich aus auf den Bäumen.
Ich schaue zum Horizont. Da tanzt eine dünne Linie.
Störche wie weiße vom Himmel gefallene Punkte.
Ich sitze unter den Bäumen im Wald. Alles ist möglich. Ich höre es leise rascheln. Hoffnung ist ein dünnes Blatt fällt mir vor die Füße gehen.
© Brigitte Hieber 2022-08-10
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