Ich darf Gedanken denken
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Als es galt, eine wie immer geartete Mitte zu finden in der Welt und im Leben irgendwann in der Mitte zwischen 10 und 20 Jahren, da schlug ich es auf, dieses schmale gelbe Buch.
Wir sitzen im Bus, warum und wohin, weiß ich nicht mehr, denn wir kommen aus entgegengesetzten Richtungen, meine Schulkameradin und ich. Und wir haben es beide aufgeschlagen, dieses schmale gelbe Buch. Und wir sprechen darüber. Über jeden einzelnen Satz, jeden einzelnen Gedanken. Denn es sind Gedanken, die darin stehen, Gedanken über die Welt und das Leben. So muss sich Erwachsensein anfühlen, denke ich. Ein Sprechen über Gedanken, die wir haben, hören, lesen. Ich sollte mich täuschen.
„Wir können einander verstehen, aber deuten kann jeder nur sich selbst.“ Steht da.
Vielleicht habe ich den Gedanken selbst auch schon einmal gedacht, denke ich. Vielleicht so ähnlich sogar in einem Aufsatz geschrieben. Gesagt habe ich ihn sicher noch nicht. Diesen Mut hätte ich nie, auch keine Zuhörer. Gedanken aussprechen – das tut Mädchen nicht.
„Dass man … allen Ernst dem Kleinen und Kleinsten, dem Dienst des Augenblicks zuwendet.“ So stehen die Sätze da. Dick unterstrichen.
Heute würde ich sagen: Alles schon vielfach gelesen, gehört, gesagt, vielleicht geschrieben. Aber damals: Da wagt jemand einen Gedanken. Den stellt er in den Raum. Öffentlich. Ein Gedanke, so allein, für sich, wesentlich, stark, selbstbewusst. Ja, Gedanken sind selbst-bewusst! Sind Schönheit. Sind Tropfen auf einem Zweig. Das ist neu für mich.
Natürlich liebte ich sie alle, die Bücher zu Hause, die in der Schule. Schon die Namen waren ein Versprechen: Shakespeare, Schiller, Kleist, Büchner, Walther von der Vogelweide, Wesen, die von anderen Welten erzählten. Ich versank.
Und dann taucht dieses schmale gelbe Buch auf, das wir beide im Bus in Händen halten. Wo wir uns über jeden Gedanken die Köpfe heiß reden. Die Gedanken gehen mich etwas an. Was genau, weiß ich damals noch nicht.
Heute sage ich: Sie gaben mir die Erlaubnis, meine eigenen Gedanken zu denken. Zu denken, was ich denke, ist vielleicht aufschreibenswert. Selbst so im Kleinen. Als einzelner Satz. Eine Revolution war das.
Immer noch passiert es, immer bewusster gar, dass ich aufhorche, wenn ich rede, schreibe: Oh, ein Gedanke! Wenn andere reden, schreiben: Oh, ein Gedanke.
Eins überlebte. Das schmale gelbe Buch von damals ist wohl eines der ersten selbstgekauften Bücher in meinen Regalen. Es überstand alle Aufräum-, Ausmist- und Verschenkaktionen: Hermann Hesse „Lektüre für Minuten“. Gleich daneben stehen Marc Aurels „Selbstbetrachtungen", Lichtenbergs „Aphorismen“ und Tucholskys „Schnipsel“. Gedanken.
Jetzt nehme ich Hesses Buch zur Hand und schlage es an einer willkürlichen Stelle auf: „Mir liegt alles Politische nicht. Sonst wäre ich längst Revolutionär.“
Nach der Schule begann ich, Philosophie zu studieren. Bekam Flügel.
© Brigitte Hieber 2021-10-24
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