Kleines Flüstern
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Hallo, hier spricht das Hafenbachtal. Ich weiß, es ist ungewöhnlich, dass ein Tal spricht, noch dazu so ein kleines und scheinbar unbedeutendes. Ich bin schließlich kein Donautal, das sich sensationslüstern durch die Schwäbische Alb schneidet, oder ein Odertal, das eigentlich gar kein Tal ist und nur zwischen zwei Dämmen eingepfercht ist, oder ein Lippetal, das auch kein Tal ist und daher nichts als Gegenwind zu bieten hat, schon eher ein Isartal, das sich auch aus der Höhe hinabstürzt wie ich, aber das will ich mir natürlich nicht anmaßen, mich mit der großen Schwester zu vergleichen, die überdies noch ein ganzes Quellgebiet aufzuweisen hat, ja, nicht einmal damit kann ich dienen, mit einer anständigen Quelle, sonst hätte ich mich vielleicht noch am ehesten mit dem Edertal vergleichen können, aber auch das geht nicht, obwohl auch ich in einen Stausee einmünde, mit einer Zwischenstation über das Reichenbachtal zwar, aber immerhin, doch mit so einer Riesen-Staumauer kann und will ich nicht aufwarten …
Uff, also ich bin das Hafenbachtal. Und ich beherberge ein Juwel, den Hafenbach.
Und weil ich also nichts Großes an mir habe, spreche ich nur zu den zwei Menschen, die mich regelmäßig besuchen. Besucht haben, muss ich dazu sagen, denn sie waren schon länger nicht mehr da. Schade. Daher muss ich jetzt zu ihnen sprechen, dann erinnern sie sich vielleicht.
Also, ich bin, wie gesagt, für das Kleine zuständig. Beherberge einen kleinen Bach. Mit einem kleinen Wasserfall. Mit kleinen Steintreppen. Einen kleinen sauberen frischen Bach, der die Treppen hinunterhüpft. Einen kleinen kurzen Bachlauf bis zur Mündung. Im Bachbett bemooste Steine und glattgespülte Steine. Kleine und auch größere, gebe ich zu, aber nicht so groß wie die in Spaniens oder Italiens Flüssen natürlich! Woher ich das weiß? Nun, die beiden haben es mir erzählt. Das ist mein Geheimnis: Ich bin immer im Dialog mit meinen Besuchern, mit den zweien eben, da sie mich ja regelmäßig besuchen, das heißt, besucht haben. Die beiden wissen vielleicht nicht, dass auch ich jemanden zum Reden brauche. Ich habe mir alles gemerkt, was sie gesprochen haben. Und sie haben wohl nicht bemerkt, dass auch ich ihnen viel erzählt habe, nicht bewusst bemerkt zumindest. Aber sie wissen, ich bin fürs Kleine zuständig, für das kleine Flüstern. Deshalb lieben sie mich ja. Und ich liebe sie, weil sie das wissen.
Bis demnächst.
Hört auf mich, auf das kleine Flüstern.
© Brigitte Hieber 2020-11-21
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