Knapp daneben
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Mühsam hatte ich Berge erklettert. Flüsse durchquert. Nach den Sternen gegriffen. Ins Leere. Eine Meisterin der Ziele war ich nie gewesen. Ziele sind zum Erreichen da? Ja, oder zum Verfehlen. Da gibt es Zeichen? Ja, die kann man deuten oder übersehen. „Übersehen“ ist überhaupt ein schönes Wort. Wenn ich ganz oben bin, kann ich die Welt übersehen, die Wege, die langgehen, die wissen, wohin.
Wieder einmal brach ich also ab und auf. Die Sterne standen gut. Es gab sonderliche Übereinstimmigkeiten. Der Pfad lag vor mir aus. Diesmal würde ich alles in Reih und Glied kriegen. Man sagte mir nach, ich würde alles direkt anpeilen. Na dann, nur nichts umschmücken!
Bald stieß ich an meine erste Grenze, die ich allerdings problemlos überwältigte. Dann die zweite, die ich verscheiterte. Da wurde ich leicht reizvoll.
Aber die Sterne lagen gut: Es gesellte sich ein Gefährte mit mir zusammen. Sofort bemerkte ich, dass wir auf einer Wellenlänge schwebten. Jeder von uns wusste, was der andere zu tun und zu bleiben hatte. Unsere Erwartungen wurden überschlagen: Wir gaben uns Rückenhalt, beschritten sämtliche Herausforderungen gemeinsam. Als eine Sinfonie der Unfertigkeit. Ich musste die Tränen zusammenkneifen.
Tatsächlich erreichten wir das Ziel auf dem Gipfel! Das zollte Respekt. Es war ein Ziel, wo der äußerliche Eindruck zuerst ins Auge sprang. Was für ein Woo-Effekt! Ja, wir hatten das Ziel erreicht, denn wir hatten harmonisiert. Wir waren uns gegenseitig aufgeschlagene Bücher, konnten jederzeit hinter unsere Facetten schauen.
Und dann verschwand mein Gefährte über alle Berge mit seinen Gefühlen. Das war nervenzerraubend. Das musste ich erst einmal sacken lassen und in mich hineinkehren. Wo war der Grund? Wir konnten doch unterwegs so gut den Alltag miteinander baumeln lassen! Wir hatten doch immer die gleiche Ansichtsweise! Gut, vielleicht war meine Wortwahl manchmal falsch ausgedrückt. Manchmal war ich etwas durchgeflippt. Was waren das plötzlich für vorgedrungene Gedanken? Nun nahm alles Hand und Fuß an. Ich hätte einfach kein so großes Auge auf ihn legen sollen!
In der Einsamkeit dort oben fand ich Getrost in Nietzsches Zeilen: „Ziele auf den Mond. Selbst wenn du ihn verfehlst, wirst du zwischen den Sternen landen." Zwischen den Sternen nicht gerade, aber immerhin zwischen den Steinen.
Wenn ich heute daran zurückdenke, habe ich den Anschein, dass diese Expedition für mich ein wichtiger Bestandspunkt war, um für mich im Reinen zu werden. Sie hatte den Vordergrund, dass ich jetzt weiß: Ziele sind zum Verfehlen da.
Über meine Wiedergeburt wird sich sicher auch die nette junge Krankenkassendame freuen. Sie hatte ja den Vogel erschossen mit ihrer Frage: „Sind Sie immer noch in Rente?“ „Nein,” hatte ich gesagt. „Ich bin schon tot." Na ja, fast hätte ich es gesagt.
Sollte ich ihr schonungsvoll mitteilen, dass ich inzwischen ein neues Ziel verfolge? Dass ich einmalige sprachliche Wege erkunde, quietschfidel? Ich Schelm.
© Brigitte Hieber 2021-08-28
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