Lebenswege
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Man ist berühmt. Man stirbt. Dann gibt es Tafeln. Manchmal nimmt die Nachwelt erst durch die Tafeln Notiz davon, dass man gelebt hat.
Tafeln an einer Hauswand neben der Tür, an einer Hausecke, einer Gartenmauer, einem Hoftor.
Sie informieren darüber, welche berühmte Persönlichkeit hier geboren wurde oder starb, von wann bis wann sie hier wohnte, wozu, wird nicht immer gesagt. Wichtig sind: Name, Ort, Straße, Hausnummer und natürlich ein Datum. Wer Pech hat, bekommt nur eine einzige Tafel. Der ist dann nur geboren oder nur gestorben oder hat sich zwei Wochen in Heidelberg aufgehalten, ohne geboren oder gestorben zu sein. Das ergibt dann exotische Lebenswege.
Sehr berühmte Leute bekommen viele Tafeln. Wie Goethe zum Beispiel. Der ja geboren wurde, viel lebte, wohnte, reiste und auch starb.
Ich sitze eines Sommers auf dem Tübinger Marktplatz. Links von mir ein Wohnhaus. Unter einem der oberen Fenster hängt die Tafel:
HIER KOTZTE GOETHE
Und ich male mir aus:
Nein, nicht das. Sondern: Zeichnete ich auf einer Europa-Karte alle Goethe-Tafeln ein und verbände sie ihrer Chronologie nach durch Linien, bekäme ich ein Bild von Goethes Lebensweg, sein Lebensnetz sozusagen. Vielleicht ergäben die Linien eine chaotische Figur, gar eine symbolische und fügten seinem Werk somit eine neue Dimension hinzu.
Ginge ich dann noch einen Schritt weiter und zeichnete die Lebensnetze anderer Berühmtheiten dazu, so stellte ich wohl fest, dass sich Ballungszentren ergäben, Tafel-Ballungszentren: in Tübingen etwa oder in Wien oder Rom. Ich könnte auf einen Blick sehen, welche Lebenswege welcher Personen sich wo gekreuzt hätten. Wobei ich für den Moment die Frage der Zeitgleichheit außer Acht ließe – das wäre eine andere Überlegung.
Tatsache ist:
Je mehr Tafeln eine Stadt aufzuweisen hat, umso mehr färbt vom Glanz der Berühmtheiten auf sie ab. Oder umgekehrt? Nur wer in Rom eine Tafel hat, ist wirklich berühmt? Wer ist schon berühmt, weil er in Brombach war?
Doch wirklich herausragende Persönlichkeiten scheuten sich nicht, in Brombach gewesen zu sein. Brombach liegt abseits im süddeutschen Ellwanger Berg- und Seenland. Ein Weiler, zu dem nur ein kleines Sträßchen hinführt. An der Abzweigung radeln auch wir fast vorbei, hinge da nicht ein Besen am Ortsschild (für Württemberger ein Hinweis auf eine „Besenwirtschaft“). Denn an einem Wochenende im Jahr, im September, gibt es in einem der zwei Brombacher Häuser neue Beerenweine zu kosten. Dazu deftige Vesper oder Linseneintopf. Was für ein Glück für uns!
Ja, einer war sich nicht zu schade für Brombach. Auf der Tafel neben dem Eingang prangt in großen Buchstaben:
HIER WAR GOETHE
Und wir sehen ihn dort sitzen, auf einer Holzbank in der Sonne, ein Viertele vor sich.
Als wir näherkommen, erkennen wir unter den großen Buchstaben ein klitzekleines „nie“.
Diese Linie in Goethes Lebenswegenetz müsste ich also wieder streichen. Schade, vielleicht hätte sie ihm einen interessanten Knick verpasst.
© Brigitte Hieber 2020-07-06
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