Leere Tage
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Vorweihnachtszeit, Dezember 2020
In der Nacht zum Dienstag, dem 1. Dezember, kündigte er die leeren Tage an, die ich so liebe. Hatte er nachts noch zaghaft als Graupel an die Scheiben geklopft, hatte er gegen Morgen schon unerschrocken rieselnd alles weiß eingepackt –
der erste Schnee.
Leere Tage sind nicht unbedingt stille, geschweige denn melancholische Tage. Es sind Tage, in denen die Welt nicht existiert, sie also nichts von mir erwartet, mich zu mir selbst entlässt. Tage, die mich einhüllen in ein wärmendes Tuch, in Schokolade und Kaffee, unsichtbar geborgen auf diesem Planeten.
Schon als Kind liebte ich sie, besonders die leeren Sonntage. Ich konnte nicht verstehen, warum man sie langweilig fand. Da konnte ich mich zu Hause einigeln, lesen, „Flipper“ und „Augsburger Puppenkiste“ gucken, sogar lernen war behaglich. Lediglich der Aufruf „Wir gehen spazieren!“ störte. Aufregend dagegen war das Herumkutschieren über die romantisch-idyllischen Straßen. In Vaters flugkörperähnlichem Gefährt namens Arabella, das in den Kurven kreischte und ein Traum in Grelllila war.
Bald sollte ich das Querfeldein-Elixier für mich entdecken. Herausfinden, wie sehr ich das Umherstreifen in der Natur genieße, allein mit mir. Jetzt mit dir. Und ausgerechnet in dieser winterlichen Natur, die sich unter Decken und hinter Schleier zurückzieht, hält dieses unvergleichlich wohlige Gefühl der Leere Einzug.
Der erste Schnee pünktlich zum Ersten –
und es zieht uns hinaus in die Neue Welt, wir werden zu Pionieren auf altbekannten Wegen. Das Auto rumpelt über schneeklumpige Landsträßchen. Traktorspuren verlaufen sich in Schleifen auf schneebedeckten Wiesen. Unser Waldweg versinkt im Tiefschnee. Nur eine einzige menschliche Spur führt hindurch. Den Fußstapfen zu folgen, erweist sich als beschwerlich, denn da ging ein Riese mit einer Schrittlänge von einem Meter zwanzig.
Und unaufhörlich schneit es weiter. Von ferne dringt nichts zu uns durch, die Welt lässt uns in Frieden. Aber der Wald ist nicht still. Die Schneeflocken machen zart-knisternde Geräusche, wenn sie auf dem Schnee der Erde auftreffen. Sie hinterlassen löchrige Muster.
Die „Reisegruppe mit Igel“ trägt weiße Mützen, die Sonnenschirmblätter des Sommers schlackern. Der Igel bekommt Pantoffeln aus Moos.
Am Sonntag darauf ist unser Weg in Nebel eingehüllt. Der Schnee ist harsch und knirscht unter den Sohlen. Auf den Blättern schmelzen die Schneekristalle, von den Ästen tropft es.
Heute, am 3. Advent, empfängt uns Tauwetter. Und unser Weg empfängt uns mit einem Tosen. Der Bach in der Tiefe ist angeschwollen und plötzlich hörbar. In den Bäumen liegt verhaltenes Gezwitscher. Und aus der Höhe knarzt prahlerisch ein Krah-Krah.
Leere Tage – ein bisschen wie Weihnachten, das ganze Jahr über.
© Brigitte Hieber 2020-12-13
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