Mykines
- 686

AM TISCH in einem Hostel. September 1999. Wo bin ich gelandet? Die Bilder der letzten Stunden geistern durch meinen Kopf:
4 Uhr morgens. Bald geht der Flughafenbus. Es sollte meine Traumreise werden – zu den Färöer Inseln. Doch ich sitze immer noch am Küchentisch. Nichts ist gepackt. Da ist nur Leere, Lähmung. Ich raffe mich auf, verstaue wahllos Dinge im Koffer. Ein klarer Gedanke: Pack den kleinen Rucksack ein!
Kurz vor der Landung wache ich auf. Grüne Schwaden rasen auf mich zu. In Tørshavn schleppe ich den schweren Koffer zur Unterkunft. Der Empfang ist kühl. Tags darauf ziehe ich los. Mit Bus, Fähre – und Koffer. Slapstick. Die Landschaft ist schroff, unwirtlich, versöhnt nicht. Erste Anlaufstelle: ein Hostel. Der Busfahrer hält im Nirgendwo. Niemand da. Nur eine Telefonnummer: Ich könne mir Bettzeug und Zimmer nehmen.
AM TISCH im Hostel. Von einem Paar erfahre ich von einer Insel im Westen. Genaueres wissen sie nicht, haben aber eine Telefonnummer. Ich buche Zimmer und Überfahrt. Aus dem Koffer das Nötigste in den Rucksack gestopft. Der Koffer bleibt hier.
Mit dem Postboot geht es über ein Meer, so unwirtlich wie das Land. Wie aus dem Nichts tauchen Felsennadeln auf, Felsentore, ein Labyrinth. Alles ist so gewaltig – und ich spüre das Leben zurückkehren.
Gigantische Klippen kommen in Sicht. Das Boot legt an. Hier sollen Menschen wohnen? Beim Aussteigen nehme ich in der Felswand Stufen wahr. Sie führen steil nach oben. Ich bin in einem Hitchcock-Film: Die innerlich zerrissene Heldin landet in der Ödnis. Zugleich fühle ich mich so real wie nie zuvor. Fühle … pures Glück.
„You really love this place“, sagt der Biologe. Ja, ich will nicht mehr weg. Drei Tage verbringe ich auf dieser Insel namens Mykines [Miedschenes], auch bekannt als Vogelinsel. Sie besteht aus zwei Teilen, als Brücke dient eine halsbrecherische Konstruktion. Auf dem unbewohnten Teil befinden sich der Leuchtturm und das Reich der Papageientaucher. Auf dem bewohnten tummeln sich die Schafe und drängeln sich die Häuschen der ungefähr 16 Einwohner. Die Pension ist eins davon. Mein Zimmer ist einfach, mit Blick aufs Meer.
In der Cafeteria gibt es zwei Tische: einen für die Einheimischen, einen für die Fremden. Wir Fremde – eine Gemeinschaft der Unabhängigen. Tagsüber grüßen wir freundlich, jeder geht seiner Wege. Abends rücken wir zusammen, jeder ist aufgenommen. Als würden die Kargheit und die Macht der Elemente ringsumher menschliches Urteil aufheben. Die Einheimischen – meist Fischer. Einer betreibt die Poststelle, ist darüber hinaus Schäfer und Pfarrer.
Die Kirche ist voll besetzt. Himmel und Meer gesellen sich dazu. Die Predigt ist auf Färöisch. Ich höre die Kraft der Sprache, die die Würde der Menschen hier widerspiegelt. Es ist der erhabenste Gottesdienst, den ich jemals erlebt habe.
Die RĂĽckfahrt erfolgt im Sturm, im Vertrauen auf die Besatzung und auf Gott. Im Hostel schnappe ich mir den Koffer. Niemand da.
Hat es das Hostel je gegeben?
© Brigitte Hieber 2020-10-02
Kommentare
Jede*r Autor*in freut sich ĂĽber Feedback! Registriere dich kostenlos,
um einen Kommentar zu hinterlassen.