Nichts Besonderes
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Freitag, 19. Juni 2020
Endlich. Ich hole tief Luft und trinke die Waldwürze. Unser Weg führt leicht bergab, noch sonnenbeschienen. Doch rasch erreichen wir den Schattentunnel und das ersehnte Eintauchen kann beginnen.
„Komisch, dass mir das genügt“, sage ich. „Ich will nichts Besonderes mehr. Nur noch diesen Weg.“
Dir geht es genauso. Schweigend gehen wir weiter. Mein Blick ist, wie so oft, auf den Boden gerichtet. Ich denke an nichts. Ein Geräusch neben mir lässt mich aufschrecken. Am Rand des Weges sehe ich ein junges Reh aufspringen und hangabwärts im Gebüsch verschwinden.
„Komisch, dass es nicht früher auf und davon ist.“
„Wir waren nicht in Eile.“
„Es hat einen Haken geschlagen wie ein Hase. Und hatte fast die gleiche Farbe wie der Turmfalke neulich. Dabei wollte ich doch gar nichts Besonderes.“
„Brigitte, da!“ Du hältst mich am Arm fest. Von unten kommt ein Hase angehoppelt, angaloppiert, schnurstracks auf uns zu. Abrupt bleibt er stehen, wenige Meter entfernt, mitten auf dem Weg. Dreht sich zur Seite, setzt sich. Was für ein Profil.
„Wie eine Statue“, flüsterst du.
„Ein Gemälde“, flüstere ich.
Aber mit dem uns zugewandten Auge hat er uns genau im Visier. So verharren wir zu dritt eine ganze Weile. Er sitzt. Wir stehen. Dann hat er offensichtlich eine Entscheidung getroffen, denn er galoppiert schnurstracks zurück. Verblüfft schauen wir uns an.
„Nichts Besonderes.“ Ich muss lachen. „Wer weiß, wer uns heimlich so alles begleitet.“
Wir gehen den Weg hinunter zu unserem Areal. Eine schlangenartig gewellte Borke erkläre ich zur „Elfenrutsche“. Ein spiralig verdrehter Ast bekommt den Platz neben der Distel, du nennst die beiden „Ein Paar“.
Ich habe den Eindruck, dass die Vögel heute lauter singen als sonst. Die Luft war nach dem Regen wie reingewaschen. Kann das den Klang beeinflussen?
Zurück in der Sonne. Du deutest mit dem Finger nach vorn: „Ein Rüttelfalke.“ Wahrhaftig, über der Wiese steht ein Vogel rüttelnd in der Luft.
„Der sieht aus wie der Turmfalke“, sage ich. Und erfahre, dass das dasselbe ist. Und prompt dreht er Richtung Felder ab, der Rüttel-Turm-Falke.
Jetzt zücke ich doch mein Notizbuch, notiere: ‚Wo Rehe Haken schlagen, Hasen galoppieren, Falken rütteln und …‘ – und stutze.
„Du, Helmut, dein Paar ist das 100. Werk.“
Was für ein besonderer Tag. Mit sehr besonderen Besuchern. Daher widme ich diesem Weg an diesem Tag diese Geschichte.
© Brigitte Hieber 2020-06-27
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