Novembermai
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November 2020
Sie explodiert ein letztes Mal. In Fülle und Farben. Die Natur in diesem November. Er beschert uns Wärme und Sonne vermischt mit Regen und tunkt die Landschaft in ein schottisches Grün, denn aus den braunen Äckern sprießt es, sie sind übersät mit Gräsern im Nu, bekleckst mit Blau und Gelb, mit Büschelschön und Raps, mit kessen Sonnenblumenblüten. Krächzen nicht auch die Krähen lauter?
Allüberall ein Aufgrünen, Aufblühen, Aufbäumen, Aufzwitschern, das sich gebärdet wie der aufbrechende Frühling. Nur unter umgekehrten Vorzeichen. Novembermai.
Auch auf unserem Waldweg ist derzeit viel Betrieb. Als würde Hektik ausbrechen, schnell, schnell, bevor der Winterschlaf einsetzt. So auch heute:
Zwei Mopeds knattern von unten herauf, in voller Pferde- und Gestanks-Stärke, grinsend winkende Jungs. Es folgt ein blendend weißes, unverschämt breites Auto.
Nahezu synchron, ein Getrappel von oben. Ein Zeitsprung: die gute alte Pferdekutsche. Gezogen von zwei strammen Rössern, mit zwei Frauen auf dem Kutschbock. Zwischen den beiden ragt ein Stab mit Lampe auf. Für moderne Nachtfahrten?
Da kommt uns ein Traktor samt Anhänger entgegen, beladen mit Totholz. Und ehe wir uns versehen, hat er seinen Kurs geändert und kehrt zurück, mit exakt derselben Fuhre wie vorhin.
Und nun hören wir ihn ganz deutlich, den Kommentar der Spottdrossel.
Genau. Wir sammeln Stecken mit aufstrebenden Zweigspitzen, stecken sie verkehrt herum in die Erde, sodass die Spitzen nach unten zeigen, und betiteln dieses Werk „Garderobenhaken für fallende Zwergengewänder“.
Was passiert denn dort oben? Zwei Männer mit Teleskopstangen machen sich am Astwerk zu schaffen. Wir vermuten Forstleute. Es handle sich um Geocaching, werden wir aufgeklärt. Die Spieler registrieren sich online und machen mithilfe von Koordinaten die in den Bäumen versteckten Metalldosen, die Caches, ausfindig. Eine Art moderne Schnitzeljagd, bei der man sich sozusagen seinen elektronischen Pilgerstempel abholt? Die Männer lachen.
Tatsächlich entdecken wir an einem Ast der Pappel eine solche Metalldose. Sie baumelt am einen Ende eines Drahtes, am anderen hängt zum Ausgleich ein Holzstück.
Der Wald geht heutzutage online. Und wir gehen weiter. Spazieren. Oldschool.
Und siehe da, zwei Spaziergängerinnen kommen den Weg herauf auf uns zu, gemächlich. Eine von ihnen erkennt mich sofort. Ich freue mich. Es ist Anne, eine frühere Schulkameradin, langjährige Nebensitzerin. Mit Leichtigkeit sind fünfzig Jahre überbrückt. Und sie will sich meine Storys anschauen, online.
Novembermai. Zeit der Gegenpole. Und der Begegnungen.
© Brigitte Hieber 2020-11-18
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