Regenräume
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Juni 2021
Ein kleiner Fleck auf dem Staub des Schotterweges. Ein zweiter. Ein unmerkliches Beben an der Spitze des Weidenblattes. Ein weiteres. Die Bauernrose erschauert. Ein rosa Blütenblatt gaukelt zu Boden.
Wir sehen den Regen, bevor wir ihn hören.
Hüpfende Tropfen. Von Blatt zu Blatt. Sie haben keinen Auftrag. Vielleicht ist es Fröhlichkeit. Die Espenblätter wanken. Als wollten sie abheben, fliegen.
Wir haben den Wald weitgehend für uns alleine. Heute wimmelt es von „Sommerregenspielen“: Unsere Schilfblattkreationen werden zu Kugelbahnen, auf denen die Tropfen übermütig abwärts kullern. Und auch wir werden übermütig und versetzen, mit viel Fingerspitzengefühl, Tropfen von einem Ort an einen anderen, einfach so.
Niederschlagende Tropfen. Auf Holz. Auf Stein. Auf meine Schuhe. Auf den Schirm. Plopp. Dumpf. Klar. Laut. Leise. Fett. Fein. Nie hoch oder tief. Es ist keine Melodie, die der Regen hervorbringt. Da ist niemand, der dirigiert. Es ist ein Stakkato von Tönen. Ungleichmäßig. Und doch, Regen klingt …
Regen erzählt nichts. Er ist da. Schafft Raum und Räume. Schafft Paradoxe. Der Regenraum erscheint zunächst als seltsam geschlossener Raum: Ein silbriger Nieselvorhang schiebt sich vor die Welt, ein fließender Kokon umhüllt mich. Und gleichzeitig dehne ich mich aus. Jede Pore, jede Zelle atmet auf. Regen. Ich bin ohne Begrenzung. Der Regenraum zerfließt, nach und nach und nach. Noch sind wir im Anfangsraum. Wir gehen über ins Wildere. Und das Land beginnt zu duften …
Nun trommelt der Regen die Wettergeister herbei, die Sommergewittergeister. Der Donner grollt, kaum vernehmlich, er sei weit weg. Wir haben noch Zeit. Begeben uns auf den Weg waldauswärts, lassen den Dschungel mit den schwarzglänzenden Baumsilhouetten hinter uns, schreiten hinaus in die helle Regenfreiheit …
… hinein in einen Raum ohne Unterschied. Ohne Differenzierung. Ohne Wolken. Unermesslich. Und die Erde kauert sich am Boden zusammen. Wir durchpflügen den Nicht-Raum. Unser Auto kennt den Weg zurück ins Dorf.
Zu Hause schaue ich aus dem Küchenfenster hinaus auf die Terrasse, auf die umliegenden Häuser. Der Wind bauscht das Regenkleid über die Dächer, die Wände und die Mauern entlang, ein Wasserkleid aus rauschendem transparentem Taft. Er tanzt mit dem Regen Tango.
An der Fensterscheibe verlaufen sich Wasserfasern, lange dünne und breite dicke.
Ich weiß, wenn der Himmel aufreißt, werden die Regenräume in sich zusammenfallen. Wenn die Sonne kommt, werden die Unterscheidungen, die Bewertungen zurückkommen. Die Sonne wird die Welt von Neuem zersplittern. Und ich werde schrumpfen.
Aber noch verweilt ein letzter klitzekleiner Tropfen an der Scheibe. Er enthält die ganze Sonne.
© Brigitte Hieber 2021-06-25
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