Schreiben
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Oft schreibe ich nicht.
Oft schreibe ich.
Oft träume ich davon, schreiben zu können.
Kann sein, es ist ein Schöpfungsakt.
Kann sein, eine schwere Geburt.
Das Innere nach außen stülpen.
Oder einfach auf das Papier hüpfen.
Die Würde des leeren Blattes.
Ein weißes leeres Blatt Papier schenkt sich mir.
Papier ist neutral, es enthält sich jeglicher Bewertungen.
Unsichtbares materialisiert sich auf dem Papier, die Hand als Mittler.
Als ob die Hand denken und mitschreiben würde.
Geduld und Mühe.
Papier zerknüllen, abheften, vorlesen, verschenken …
Meine Gedanken müssen kreuz und quer auf eine einzige Seite: „Schrift-Bild“.
Diese Freude, wenn Ordnung und Klarheit sich einstellen.
Der erste Satz und die Gewissheit, dass es genau dieser ist.
Nicht mehr aufhören können zu schreiben.
Nicht auf die Schmerzen in der Hand achten.
Eine Idee gebiert eine Idee gebiert eine Idee gebiert eine Idee …
Einen Gefährten haben, der mit dem Essen auf mich wartet, solange ich schreiben muss.
Ein unerschöpfliches Reservoir anzapfen.
Meine Bilder schützen mich, meine Phantasie kann nur ich betreten.
Unterwegs zu Fuß oder mit dem Fahrrad und dabei Dinge im Kopf formulieren.
Immer ein kleines schwarzes Notizbuch dabei haben.
Oder ein blaues.
Schreiben auf Schnipsel. Zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Schreiben macht unabhängig, Schreiben ist wie verliebt sein.
Oder wie Liebeskummer.
Ich stelle meine Fragen in den Raum oder aufs Papier und gebe der Antwort eine Chance.
Einem Erinnerungsfetzen folgen und mich überraschen lassen.
Ich habe geschrieben.
Ich kürze, kürze, kürze. Lasse los.
Der notwendige Mut zur Unvollständigkeit.
Auf dem Papier tauche ich ein in ein anderes Leben.
Oder in mein eigentliches.
Herumspinnen.
Die Logik neu erfinden. Vor allem das.
Chaos schaffen und mich selbst verblüffen.
Bisher unbekannte Verbindungswege im Gehirn anlegen.
Meine Freude, die Liebe und die Wahrheit als Kompass.
Eine Metapher entdecken.
Lachen, wenn mir etwas Lustiges einfällt.
Berührt sein, wenn meine Worte mich selbst erreichen.
Die „Wolkenschieberin“ erfinden und in die Welt entlassen.
Mich wie ein Kind über einen gelungenen einfachen Reim freuen.
Mich auf das Wesentliche konzentrieren und Haikus schreiben.
Sätze auf rosa, lila oder transparentes Papier malen.
Namen geben.
Ich überarbeite, überarbeite, und dann noch einmal …
Ich tüftle.
Worte hin- und herwenden, umstülpen, reinigen, entlasten, …
Die eigenen Worte ausgraben.
Ich gönne mir den Luxus von Zeit: Schreibend nehme ich mir Zeit.
Ich taufe meinen Text.
Und tippe ihn in den Computer: Ganz auf meinem Mist gewachsen!
Am Computer: Wie von Zauberhand schreibt sich der Text um.
Ich lese vor: Mein Zuhörer nimmt sich Zeit und nickt.
Fertig! Und nun alles nochmal von vorn: knapper, klarer, tiefer …
Immer habe ich etwas vergessen.
Doch: Das Ungesagte ist oft das Wichtigste.
Es schimmert durch.
Ich brauchte sehr, sehr lange, bis ich mein Schreiben wagte.
© Brigitte Hieber 2020-05-01
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