Stolpern
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Das Gehen wird maßlos überschätzt. Sobald ich laufen gelernt hatte, stellte ich fest: Die Erde ist uneben.
Also begann ich, das Stolpern zu kultivieren. Zwischen Lebertran und Sauren Kutteln. Zwischen Bauklötzchen, Bonanza, Hula Hoop und „Hair“. Zwischen Pflastern, Jod, Klammern, Nähten und erster Zigarette.
Allerdings möchte ich hier kein Aufhebens machen von meinen Glanzstücken, …
wie ich als 3jährige und jüngstes Mitglied des Turnvereins in hohem Bogen vom Tanzboden fliege,
wie ich mich bei der Einweihungsfeier für die neue Grundschule als Maurer verkleidet, fachmännisch ausgestattet durch die Handwerker des Dorfes, auf den Weg zum Mikrofon mache, die Schubkarre mit den Ziegelsteinen entschlossen gegen das auf dem Boden liegende Kabel ramme und im Salto vorwärts mein perfekt auswendig gelerntes Sprüchlein in Richtung Mikrofon donnere,
wie ich mich als Gymnasiastin beim 100m Lauf kurz vor der Ziellinie gekonnt der Länge nach auf die Aschenbahn fallen und danach von meinem Lateinlehrer zum Arzt fahren lasse. Er findet es lustig. Was weiß er schon von meinen Experimenten! Die Narbe am rechten Knie trage ich voller Stolz.
Nein, davon will ich nicht erzählen, sondern von meinen parallelen Fortbewegungswelten und meiner Entdeckung der Vertikalen. Da gab es Rollschuhe zum Rollen, Schlittschuhe zum Gleiten, gebremst wurde mit dem Hintern. Es gab Roller, Räder und Wasser. Und es ging nach oben! Kein Zaun, keine Mauer, kein Baum waren vor mir sicher. Klettern, springen, drüber – und oben bleiben: Auf der Schaukel, gar auf der Schiffschaukel, mit der ich, glaubt mir!, einen Überschlag zuwege brachte. Und dann Tante Sofies Teppichstange! Mein Ehrgeiz galt der Rolle vornüber. Rein logisch müsste ich da hinunterfallen, überlegte ich mir, tat es auch. Ich übte, bis es dunkel wurde und man mich suchte.
Mein Plan, zum Zirkus abzuhauen ans Trapez, wurde vereitelt. Wovon ich hätte leben wollen? Na, vom Verkauf meiner selbstgemalten Bilder! Mir blieb nur der Schulbarren.
Bis ich an die Uni kam, hatte ich mich den Gehenden weitgehend angepasst. Obwohl ich den Verdacht hege, dass mir das Stolpern auf anderer Ebene erhalten geblieben ist. Ebenso meine Liebe zur Luft. Noch deutlich habe ich das „Voglio volare“ von Leonardo da Vinci im Ohr, der Hauptfigur eines Telekolleg-Italienischkurses. Der erste Zirkusbesuch erfolgte viel später, und erst vor wenigen Jahren, während einer Lippe-Radtour, schenkte ich mir einen Rundflug über Hamm.
Nebenbei lösten sich noch die zwei Rätsel meines Lebens:
Die Rolle vornüber. Ein kleines Mädchen auf dem Spielplatz machte es mir vor: gegrätscht auf der Stange – und mit Schwung.
Eines Tages erzählte meine Mutter, dass sie als erstes Kind immer eine Brigitte wollte. So hatte die Heldin aus ihrem Lieblingskinderbuch geheißen: Brigitte steht auf der Schaukel, hält sich oben an der Stange fest und turnt.
Wenn ich dies jetzt so schreibe, wird mir eins klar:
Mein natürlicher Zustand ist Schweben.
© Brigitte Hieber 2021-03-13
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