Tau
- 330

„Tao“, höre ich. Und denke, das ist anspruchsvoll, er will über den Taoismus in China sprechen. Doch der junge Chinese verbessert mich: „Nein. Tau.“ Es ist Referate-Zeit.
Wir sind in einem internationalen Deutschkurs in Heidelberg. In einem drückenden Sommer Ende der 90er.
„Heidelberg-Tau“ ist ein ungewöhnlicher Titel für ein Referat, verglichen mit Themen wie: Die Schweiz, Meine Stadt Belgrad, Gebärdensprache, Japan und seine Schriften. Teilnehmer entführen uns in ihre Heimat oder in ihren Berufsalltag. Abwechslungsreich und spannend für alle, die Lehrer eingeschlossen. Meist informativ und sachlich vorgetragen, mit selbstgebastelten Plakaten veranschaulicht.
Bei diesem Titel habe ich keine Ahnung, welche Expedition uns bevorsteht. Auch in der Runde sehe ich nur Stirnrunzeln, was zunächst darauf zurückzuführen ist, dass der chinesische Teilnehmer schwer zu verstehen ist. Auch als der Titel an die Tafel geschrieben wird, hilft das nicht weiter, da niemand das Wort „Tau“ kennt. Die nachgeschobene Erklärung hinterlässt wiederum Fragezeichen: Ist das ein Thema? Und völlig ohne Plakat?
Der junge Chinese steht vor der Tafel. Mit Zetteln in der Hand. Ich schalte um in den Moderationsmodus, weil ich damit rechne, eingreifen zu müssen, um das Verständnis und auch die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu sichern, aus Respekt gegenüber dem Vortragenden. Das mache ich auch, anfangs.
Doch dann geschieht eine erstaunliche Verwandlung: Die Klasse wird ruhig, andächtig still. Keiner quatscht, keiner unterbricht. Nur noch einer spricht. Wir verstehen nicht jedes Wort, verstehen dennoch alles. Ein Zauber wirkt.
*****
„Ich komme aus der Fremde. Ich komme nach Heidelberg. Ich verstehe kein Wort. Ich bin allein. Ohne Freunde. Die Stadt ist fremd, das Zimmer ist fremd. Ich stehe auf, frühstücke, kaufe ein. Ich spreche kein Deutsch. Ich spreche mit niemandem, niemand spricht mit mir.
Doch da ist er: Heidelberg-Tau.
Ich gehe in die Schule, ich lerne Deutsch. Ich verstehe wenig. Ich gehe allein nach Hause. Ich bin traurig. Ich vermisse meine Heimat. Ich schlafe, ich stehe auf. Einsam, allein.
Doch da ist er: Heidelberg-Tau.
Ich lerne Leute kennen, spreche ein bisschen mit anderen. Auch sie sind fremd. Ich sage ihnen: Heidelberg-Tau.
Jetzt spreche ich besser. Jetzt verstehe ich mehr. Ich lerne. Jeden Morgen freue ich mich auf: Heidelberg-Tau. Auch andere sind traurig, haben Heimweh. Ich zeige ihnen: Heidelberg-Tau.
Das Leben ist schön in Heidelberg. Denn in Heidelberg gibt es Heidelberg-Tau.“
*****
Der junge Chinese hat später die Deutsch-Prüfung an der Universität bestanden und sein Ingenieurstudium fortgesetzt.
© Brigitte Hieber 2020-06-11
Kommentare
Jede*r Autor*in freut sich über Feedback! Registriere dich kostenlos,
um einen Kommentar zu hinterlassen.