Wer ist Stephen Hawking?
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HEIDELBERG 1995
Die Füße nebst Kater auf dem Schreibtisch, Zigarette im Mundwinkel, warte ich auf bessere Zeiten. Die nicht kommen. Die Zeit war nie mein Verbündeter.
„Philip Marlowe?“ Eine junge Frau, wohl Mitte 30, steht in der Tür.
Ich nicke.
Sie wagt einen Schritt. „Ich habe einen Auftrag für Sie.“
Das sagen sie immer, denke ich. Und bezahlen tut sie sowieso nicht.
„Wer ist Stephen Hawking?“, fragt sie.
Mit einem Ruck sind meine Füße auf dem Boden. Kater spitzt die Ohren. „Sie meinen den Physiker, den Kosmologen, den …?“
„Hmm“, sagt sie. „Ich habe den Namen aus einem Drehbuch.“
„Hmm.“
„Der Autor lässt seine Hauptfigur dauernd von einem gewissen Stephen Hawking schwärmen. Der hätte an dieser Stelle sicher dieses oder jenes gesagt. Ich habe da so ein Gefühl.“
„Woher haben Sie überhaupt meine Adresse?“, frage ich.
„Aus der Literatur.“
„Junge Frau, verwechseln Sie da nicht Fiktion und Realität?“
„Sie haben doch immer alle Fälle gelöst, sagt Raymond Chandler“, sagt sie.
„Ach so. Sie meinen meinen Großvater, gleichen Namens. Jetzt sind wir aber hier in Heidelberg, gut 50 Jahre später. Das konnte Chandler nicht wissen.“
Sie murmelt noch etwas von „Gelben Seiten“.
Bescheuert! Dennoch: Eine Stunde später stelle ich in ihrer Wohnung das Drehbuch sicher, setze mich zwischen die Chandler-Stapel auf den Boden, rauche, sinniere.
„Ein Zeuge muss her.“ Ich erspähe ein Buch im Regal: Eine kurze Geschichte der Zeit, von Stephen Hawking.
„Oh“, sagt sie überrascht.
Ich lese ihr aus dem Vorwort vor. Bei „Gonville and Caius College, Cambridge“ stutzt sie.
„Dort habe ich mal gearbeitet, in den 80ern. Als Lektorin für Deutsch.“
„Noch ein Zeuge.“ Ich greife nach der Geschichte des Gonville and Caius College.
„Oh, mein Abschiedsgeschenk vom College.“
Wieder lese ich vor, ergänze, was ich weiß über seine Erkrankung.
„Der Rollstuhl, der Sprachcomputer“, sagt sie. „Natürlich, das war er! Ich habe einmal neben ihm gesessen.“
„Was?“
„Bei einem der formell-informellen Treffen im College. Eine Krankenschwester saß neben ihm auf der anderen Seite. Von mir wurde zwar nie erwartet, dass ich viel sprach, aber dennoch fühlte ich mich befangen. Grundlos, wie sich bald herausstellte. Irgendwie vermittelte er mir: Alles in Ordnung.“
„Sie wussten nicht, wer er war?“
„Es gab so viele Berühmtheiten dort, selten hat sich jemand vorgestellt. Und sein Buch war damals noch nicht erschienen.“
„Ihre Frage ist also beantwortet. Und nun?“
„Nun weiß ich, warum ich gefragt hatte“, sagt sie.
Zuhause erwartet mich Kater. „Schon gut, sie hat bezahlt, für eine Dose reicht‘s.“
ZURÜCK IM JAHR 2020
Die Frau, die ich heute bin, denkt zurück und fragt sich, warum sie gerade jetzt daran denken muss. Ist es das Schreiben hier? Das Anzapfen von Erinnerungen, die aus scheinbar schwarzen Löchern auftauchen? Das Spiel von Fiktion und Realität? Die Sache mit der Zeit?
In mir keimt ein Verdacht: Wurde aus dem Zeugen ein Ankläger? Ein ungelesenes Buch meldet sich zu Wort, erhebt sich?
© Brigitte Hieber 2020-07-04
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