Wo ist Pluto?
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Aus den Tiefen des Alls kam er. Schlug mit einem Durchmesser von 1,5 km und einer Geschwindigkeit von bis zu 180.000 km/h einen Krater von 25 km Durchmesser in die Erde und löschte jegliche Existenz im Umkreis von mindestens 100 km aus.
14 Millionen Jahre später. Wir schreiben das Jahr 2006.
„Zur Sonne stapfe ich nicht hoch!“, sage ich zu dir. Wir stehen mit unseren Rädern vor dem Kirchturm „Daniel“. Die Kuppel als Sonne bestimmt mit ihrem Durchmesser von 350 cm den Maßstab für die mittleren Entfernungen der Planeten: 1:400 Millionen. Krass! Hier beginnt der Rieskrater-Planetenweg, der auf 22 km das Nördlinger Ries von Nördlingen bis Harburg durchquert. Wir studieren die erste Tafel.
Merkur zeigt sich inmitten des Wochenmarktgedränges auf dem Marktplatz. Welche Botschaft bringst du uns, Götterbote? Venus steht in einem unscheinbaren Gässchen, das sich als Einkaufsmeile mit edlen Boutiquen und Juwelieren entpuppt.
Wir passieren das südöstliche Tor in der vollständig erhaltenen mittelalterlichen Stadtmauer. Es erwartet uns ein lichtgesprenkeltes Plätzchen mit Bäumen und Bänken. Ich rekapituliere: Die astronomischen Daten auf den aufwendig gestalteten Tafeln stillen den Wissensdurst. Gleichzeitig bin ich gespannt auf das Drumherum der Standorte. Wimmelt es da nicht von Symbolik? Fast so, als stiegen die antiken Götter und ihre Archetypen in ihrer Vieldeutigkeit und Unfassbarkeit aus der Tiefe der Vorzeit empor. Geehrt durch die schlichte Namensnennung auf einer Tafel.
Da drüben ist wieder eine. Schon Mars? Nein, die Erde! Einfach vergessen. Sie holt uns zurück auf die Erde und teilt uns mit: Die Erdumlaufbahn um die Sonne entspricht in etwa dem Verlauf der Nördlinger Stadtmauer. Mars erspähen wir weit draußen, an einer schnurgeraden Allee, wohl einer ehemaligen Römerstraße.
Es wird hügelig. Wo thront Jupiter? Auf einem riesigen Parkplatz. Der allerdings zu einem Klinikum gehört, mitten in der Natur. Saturn stellt uns sicherlich vor eine größere Aufgabe. Und in der Tat, wir radeln die Dorfstraße auf und ab und finden ihn nicht. Letztlich empfängt er uns unter einem alten Baum. Er steht ja auch für Reife.
Womit wird uns Uranus überraschen, der den Umbruch liebt? Mit einer Umleitung. Wir ignorieren sie, tragen die Räder durch Baulärm und aufgebrochene Straßen in den Uranus-Standort-Ort. Genervt setzen wir sie ab. Zufällig neben Uranus. Und Neptun? Ihn vermute ich beim Kloster. Doch weit gefehlt. Irgendwann erscheint er am Straßenrand, ohne Aufhebens.
Es dämmert. Wir befinden uns auf dem Kraterrand. Wo ist Pluto? Hier ist eine Hochfläche, keine Unterwelt! Wir suchen. Geben auf. Lachen. Ich: „Da!“ Wir prusten los. Da ist Pluto. An dieser Stelle sind wir dreimal vorbeigelaufen, haben hier beratschlagt. Haben das Verborgene gesucht und das Offensichtliche übersehen.
In Harburg bekommen wir ein Zimmer und ein heißes Bier.
Bald darauf ist Pluto kein Planet mehr.
© Brigitte Hieber 2020-10-10
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