Wörter
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Wann war es, als ich die geheime Insel der Buchstaben und Wörter betrat?
Der See der Erinnerung spült mir einige vor die Füße, ich hebe sie auf und betrachte sie:
„Wörter mit zwei Buchstaben, bitte!“ Meine Mutter kennt sich aus, die ist Lehrerin. Ich kann schon „Ei“ schreiben und „Au“ und „du“ und „ja“.
Aufgeregt zeige ich meinem Kindergartenfreund, was ich schreibe.
Vorher habe ich nur gemalt, auf Opas weißen Karten, die mit den abgerundeten Ecken. Die bekam ich, sobald die Herrenanzugsstoffmuster entfernt waren. Mein Opa ist nämlich Schneider und sitzt im Schneidersitz auf seinem Tisch und näht Herrenanzüge.
Mein Kindergartenfreund ist, glaube ich, ein bisschen neidisch. Worauf, weiß ich nicht genau. Er zeigt mir, was er malt, ich finde die Bilder schön. Aber schreiben kann er nicht. Es sind ja nur zwei Buchstaben, tröste ich ihn.
ALLE zweibuchstabigen Wörter will ich. Meine Mutter meint, es gibt nicht so viele. Schließlich bringt sie mir „Dr“ bei. Stolz führe ich in der Verwandtschaft vor, was ich ergattert habe. Alle sagen, das ist kein Wort.
Doch, das heißt „Doktor“!
Ja, schon, aber das ist kein RICHTIGES Wort!
Was ist ein richtiges Wort? Ich begreife die Welt der Erwachsenen nicht.
Jetzt bin ich schon in der Schule. Was erzählt deine Oma von früher? Wir sollen berichten. Ich traue mich nicht. Meine hat nämlich erzählt: „Als die erste Chaise durchs Dorf fuhr, habe ich mich in der Straßenkandel versteckt, weil ich dachte, der Teufel kommt.“ Außer „Teufel“ habe ich doch nichts verstanden!
Ich sammle besondere Wörter und setze sie ein, wo immer es mir gefällt. Wir sollen eine Geschichte erfinden. Ich schreibe: „Der Löwe sagte bitterlich.“ Meine Lehrerin Fräulein P. sagt, das muss heißen „bittend“. Ich verteidige mein schönes Wort. Es passt hier nicht, meint sie. Es dauert eine Weile, bis ich begreife.
Beim Lesen stoße ich auf „Spektakel“. Dieses Wort steht in meinem Buch „Das rote Kleid“ und ich liebe es sehr. Aber ich kenne es nicht, weiß nicht einmal, wie ich es aussprechen soll und was es mit „Speck“ zu tun hat. Wieder dauert es eine Weile, bis ich begreife.
In einem Taschenkalender entdecke ich eine neue Sprache: Griechisch. Ich ersetze die deutschen Buchstaben durch griechische. Und wenn es keine Entsprechung gibt, erfinde ich neue Buchstaben. Texte, die ich in dieser „griechischen Sprache“ verfasse, kann ich flüssig auf Deutsch vorlesen. Meine Zuhörer finden das lustig: „Griechisch sind doch nur die Buchstaben!“ Nur? Es dauert …
Heute weiß ich viele Wörter. Doch oft dauert es eine Weile, bis ich begreife, was sie wirklich sagen. Vielleicht wollen manche auch geheim bleiben. Und die Übertragung in eine andere Sprache ist sowieso ein Mysterium.
© Brigitte Hieber 2020-07-08
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