Wurzeln
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Unverwurzelt durch die Welt gehen ist schwer. Mit den Füßen auf der Erde gehen, ist auch schwer. Fliegen möcht‘ ich. Vielleicht habe ich Luftwurzeln.
Oder Wasserwurzeln. Wurzeln in der Tiefe, die mich halten. Ich tauche auf aus dem Wasser, ohne zu wissen, wie sich die Welt da oben inzwischen verändert hat. Im Auf- und Abtauchen bin ich nie erfahren, weil es jedes Mal anders ist. Und der Rhythmus nie derselbe. Das Gespür nicht verlieren, wann es wieder Zeit ist, zum Auftauchen oder zum Abtauchen.
Ganz sicher ist Sprache meine Wurzel, Poesie, Phantasie. Bilder kann mir niemand entreißen. Sie sind stark. Sind Zuflucht, sind Wegweiser, sind mein.
Bedenke auch, sagt das Dorf, ob nicht hier deine Wurzeln sind, hier in mir. Deine Wurzeln sind so alt wie ich. Wo ist mein Anfang? Wie bin ich geworden?
Wo bin ich in dir zu finden, Dorf? Bin ich eine über Jahrhunderte gewachsene Stimme, eine Frequenz, eine Schwingung, ein Gesang vielleicht? Ein Gesang, der von Zerrissenheit zeugt, von der Lebendigkeit der Gegensätze, von Berg und Tal, von Wald und Hof, von Schönheit und Hässlichkeit, von Idylle und Kommerz, von Liebe und Hass … Vielleicht hast du recht, Dorf, es gibt hier ja auch von allem zwei: zwei Kirchen, zwei Schlösser, zwei Seen, Tümpel, zwei Flüsschen schlängeln sich an deinen Hängen, zwei Landkreise haben sich einst um dich gestritten.
Wer ächzt und stöhnt da? Ich höre seine Knochen knarren, sehe die brüchigen Wände, die schmutzig-grüne Fassade. Die alte Tür schief, die Fenster winddurchlässig. Das alte Haus in “dr Schitzagass“.
Es raunt mir zu: Ich bewahre sie noch auf in meinem Gemäuer, deine ersten Laute, deine ersten Schritte. Erinnerst du dich an die geschwungene Treppe, die zu euch nach oben führte? Wie stolz du immer warst, wenn du möglichst viele Stufen auf einmal hinunterspringen konntest? Du hast sogar überall erzählt, du könntest die ganze Treppe, also mitsamt der Kurve, in einem einzigen Sprung schaffen! Niemand glaubte dir. Aber ich habe es gesehen!
Und du hattest so viele geheime Winkel: Da war die winzige dunkle Ecke hinter der Treppe oben, dort hast du die Schachteln mit deinen Gemälden gehortet. Einen anderen Schatz hast du in der kleinen Hütte im oberen Gärtchen gehütet. Keine Sorge, ich verrate nicht, was du dort aufbewahrt hast. Ich würde den Kopf schütteln, wenn ich es könnte.
Und das Guckloch im Plumpsklo hast du für deine Puppentheateraufführungen genutzt, froh darüber, dass die Scheibe herausgebrochen war! Deine Schwestern mussten als Publikum herhalten.
Und du hattest die Gabe, einfach in mir zu verschwinden, stundenlang. Plötzlich warst du wieder da und warst laut und bist gesprungen. Hinaus aus deinem Schlafzimmerfenster ins obere Gärtchen. Hinunter von den Steinterrassen in den Sandkasten, nicht einmal der Nachbarsjunge traute sich das. Aus der Tür bist du gern hinausgelaufen auf die Straße und abends erst wieder zurückgekommen …
Ich höre dem Haus noch lange zu.
Wie viele Wurzeln hat ein Mensch?
© Brigitte Hieber 2021-01-21
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