Zwischen den Stühlen ist viel Platz
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Mein Leben lang sitze ich zwischen allen Stühlen. Denke, ich müsste doch endlich auf dem einen, dem meinigen, sitzen.
Seltsamerweise fallen mir in dem Zusammenhang meine Omas ein, beide noch im 19. Jahrhundert geboren:
Da war Karle-Oma, die eigentlich Karoline hieß. Die Mutter meiner Mutter.
Ich erinnere mich an die vielen Besuche bei Karle-Oma. An den Nusszopf, den sie gebacken hat, wenn wir Kinder „Buchele“ gesammelt hatten. An die Schaukel auf dem Dachboden, mit der ich in die Freiheit schaukelte, also gen offenes Fenster.
Ich erinnere mich an die vielen Übernachtungen bei ihr. An den Nachttopf. An das Engelsbild über dem Bett. An die viertelstündlichen Glockenschläge, auch des Nachts, denn Karle-Oma wohnte direkt gegenüber der imposanten evangelischen Dorfkirche.
Karle-Oma und die Kirche: Das gehörte zusammen. Die Bibel kannte sie in- und auswendig, sonntags war Kirchgang. Ein bisschen Geld verdiente sie sich damit, Gräber zu versorgen. Oft ging ich mit, der Friedhof war weit und schön, einer meiner Spielplätze.
Sie war groß und hager, respektgebietend, streng, aber nicht verbittert. Karle-Oma hatte 13 Kinder geboren und viele verloren.
Und da war Rösle-Oma, die eigentlich Rosine hieß. Die Mutter meines Vaters.
Rösle-Oma wohnte bei uns unten im Haus. Sie war weich, klein, rundlich und meist fröhlich.
Gerne saß ich bei ihr am Tisch, machte Hausaufgaben. Und wenn ich ihr altes Fahrrad benutzen durfte zum Üben, fühlte ich mich groß, wichtig und frei.
Manchmal nahm sie mich mit „in d‘ Stund“. Die fand in einer „Stuab“ statt, ein paar Häuser weiter oben in unserer Straße. Da versammelten sich Frauen und redeten über Gott und die Welt. Ich verstand nicht viel, fühlte mich aber wohl. Erst viel später verstand ich, dass es sich um eine pietistische Versammlung handelte.
Ich erinnere mich an Geschichten, die Rösle-Oma mir erzählte: Die Erde sei eine Scheibe, an den Rändern müsse man aufpassen, sonst falle man runter, und da gebe es fürchterliche Feuer. Evolution gab es für sie nicht. Ich war beeindruckt und hatte auch ein bisschen Angst, es war wie ein Krimi.
Die beiden Omas waren grundverschieden, aber sie respektierten sich gegenseitig.
Ich ging dann meinen Weg, hinaus aus dem dörflichen Leben, ich studierte, war in vielen Berufen unterwegs, mit unterschiedlichen Nationalitäten, beschäftigte mich mit den Weisheitslehren dieser Welt: heilende Quellen, als das Leben kopf stand.
Eine Freundin, die sich einen Stapel Bücher von mir ausgeliehen hatte, fragte mich einmal ganz irritiert: „Was stimmt denn jetzt? Macht dir das nichts aus, dass hier jeder was völlig anderes sagt?“
„Nein. Das kann doch alles nebeneinander stehen.“
Und wie selbstverständlich fallen mir da meine Omas ein. Die mich nie für ihre Seite vereinnahmt hatten. Sodass ich, was Religion und Glauben angeht, zwischen den Stühlen aufgewachsen bin. Und mich nie fragen musste, wer denn nun recht hatte.
Danke, Omas. Zwischen den Stühlen ist viel Platz.
© Brigitte Hieber 2020-05-05
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