Entropie wächst
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Ich bin gerade nicht in der Stimmung, diese Geschichte zu schreiben. Meine Mutter schwirrt die ganze Zeit um mich herum, um einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen, und meiner Schwester geht das unregelmäßige Tippgeräusch auf die Nerven.
Aber diese und weitere Geschichten schiebe ich nun schon den ganzen Tag vor mir her. Natürlich, ich könnte heute auch eine andere Geschichte aufschrieben (die Option, mehrere aufzuschreiben, gibt es nicht, das will ich meiner Schwester nicht zumuten), aber diese tut mir nun doch am besten. Dann bringe ich jene Gedanken aus dem Kopf. Denn wenn mir ein guter Satz einfällt - meistens der Satz, den ich am Ende der Geschichte hinsetzte - dann denke ich den ganzen Tag darüber nach und feile diesen Satz perfekt. Er schwirrt mir so lange in den Gedanken herum, bis ich ihn und eine Geschichte darum niedergeschrieben habe. Die restlichen Sätze fallen mir erst just in dem Moment des Schreibens ein. Manchmal komme ich mit dem Schreiben nicht hinterher und meine Gedanken sind schon Sätze voraus. Wenn ich die Geschichten nicht aufschreibe, bleiben sie in meinen Kopf. Manchmal gehen mir dabei die besten Formulierungen verloren, aber die Idee bleibt. Nein, das ist nicht gut, wenn man während eines entspannten Gespräches an einem lauen Sommerabend seine Gedanken und Formulierungen von zehn ungeschriebenen Geschichten ständig ordnen muss. Und einem immer neue Begriffe einfallen, man die Bewegungen der Menschen in seinem Umfeld automatisch in die Geschichten einspinnt.
Und wenn ich dann die Geschichten abgetippt, im besten Fall auch überarbeitet habe, habe ich mit ihnen abgeschlossen. Ich fühle mich wunderbar! Doch nun weiß mein Gehirn, wie der Hase läuft. Je mehr Geschichten ich abtippe, desto mehr werden mir auch einfallen. Entropie wächst. Alles im Leben kann zur Droge werden, wenn du es nur zulässt. Also werde süchtig nach den Dingen, die dir guttun.
Deshalb beschäftige ich mich mit den Geschichten und schreibe sie auf. Mache ich das nicht, verknoten sie sich in meinen Gedanken. Und ich denke immer mehr darüber nach. Ich verliere mich darin, wobei sie mir so guttun könnten. Je mehr ich nachdenke, je mehr ich nichts tue, desto größer wird die Unordnung in meinen Gedanken. Ich brauche keine Physiker, die mir das erklären. Entropie wächst. Permanent, und das passt mir. Sonst würde ich diese Geschichte nun nicht abtippen.
Ich schaffe Ordnung, indem ich das hier aufschreibe. Doch gleichzeitig weiß und spürt der Physiker in mir: Je mehr Platz ich mir zum Denken schaffe, desto größer wird die Unordnung darin. Entropie wächst, permanent.
© Carmen Aschbacher 2021-03-02
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