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#gedanken#zeit#leben

Wir haben ein Leben lang Zeit - Sein oder nicht sein

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Wir haben ein Leben lang Zeit - Sein oder nicht sein | story.one

Wir haben ein Leben lang Zeit. Wofür?

Zu leben. Hört sich toll an. Ein Leben Zeit, um zu leben. Stimmt zeitlich perfekt überein.

Bedächtig betrachte ich die Tropfen, die an meiner Haut abperlen. Sie glänzen. Perlt das Leben genauso an meiner Seele ab? Das Wasser, das unermüdlich auf den Duschboden prasselt, gibt meinen bodenlosen Emotionen Boden. Sie sind dumpf und träge. Ich weiß nicht, was sie sind.

Wieso muss das Leben so anstrengend sein? Wieso kann es nicht so sein wie das Geräusch des Wassers? Monoton. Irgendwie ist es doch genau das. Es ist immer so, wie man es derzeit betrachtet. Jetzt ist alles monoton. Dumpf. Träge. In meiner Welt.

Ich blicke meinem Spiegelbild in die Augen. Ich sehe nicht so weit. Nur mich, mehr nicht. Das reicht. Es bringt nichts. Alles ist so wunderschön. So wundertoll. Immer perfekt und immer unerträglich. Die Waage verwirrt mich. Sie wäre auch ohne mich mittig. Oder muss ich sie bewerten, damit sie existiert? Derzeit überwiegt die Anstrengung. Kann ich mich auf die andere Hälfte setzen? Wer schiebt alles in die Mitte? Obwohl derzeit alles dumpf ist. Ich nähme nicht wahr, wenn eine Seite der Waage hinabstürzen und am Boden zerschellen würde. Stände daneben und würde zustimmen. Weil es egal ist.

Der Duschkopf fällt auf den Boden. Plötzlich spritzt das Wasser unkontrolliert in alle Richtungen.

„Au“, sage ich langsam. Dann bücke ich mich und hebe ihn auf. Der muss auch repariert werden. Ich starre den unermüdlichen Wasserstrahl an. Habe ich Zeit dafür? Viel zu anstrengend. Ich muss leben.

Ich seufze. Wir haben ein Leben lang Zeit. Wie lang ist ein Leben?

.

Sein oder nicht sein, leben oder nicht leben, glücklich sein oder nicht – das war bei mir doch niemals eine Frage.

Ich will noch nicht sterben. Da ist noch so viel Unerledigtes. Damit meine ich keine Termine, Besorgungen, Verpflichtungen. Ich meine glücklich sein, Zeit mit den Liebsten verbringen, der Welt zeigen, wer man ist, das Leben anlächeln, anderen offen und gut gelaunt gegenübertreten, etwas Verrücktes machen, lachen, das Leben umarmen, die Welt entdecken, an seine Grenzen gehen. Leben. Wieso versteh’ ich das erst jetzt? Das Leben lief an mir vorbei, unantastbar wie Wasser. Mit bloßen Händen konnte ich es nicht fassen, einen Eimer reichte mir niemand. In meinem nächsten Leben werde ich mir meinen eigenen Eimer flechten. Ganz dicht muss er ja nicht sein. Wenn es ein nächstes Leben gibt. Wenn es mein einziges Leben gibt. Denn das, was nun vorübergeht, war nicht mein Leben. Es gehörte den anderen, es gehörte Niemandem, es gehörte nicht zu mir. Ich hätte es an mich nehmen, an mich reißen sollen, doch nun ist es zu spät dafür. Ich wollte doch nicht egoistisch sein.

Leben tu’ ich schon lange nicht mehr, sterben werd’ ich erst jetzt.

© Carmen Aschbacher 2021-04-08

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