Alle Vöglein sind schon da
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Es gibt Menschen die haben Flugangst. Und es gibt Menschen, die sich vor allem fürchten, was fliegt. Das heisst dann Ornithophobie. Meine Freundin Dagmar litt darunter. Nie werde ich ihr Gesicht vergessen, als sich im Gastgarten ein frecher Spatz die letzten Kuchenkrümel von ihrem Teller pickte. Sie wurde blass und starr vor Schreck. Um ihre Angst zu besiegen, beschlossen wir, unsere kulinarische Kreativität fortan nicht nur ins Kuchenbacken zu investieren, sondern auch in die Zubereitung von Vogelfutter für unsere gefiederten „Freunde“.
Aber brauchen denn Vögel überhaupt Futter? Soll man nicht besser der Natur ihren Lauf lassen und sie – frei nach Darwin – sich selbst überlassen, darauf vertrauend, dass die Stärksten schon durchkommen werden. Wir entschieden uns dafür, uns erst einmal „vertraut zu machen“: Was braucht so ein Vogel überhaupt? Wer frisst was? Wie bereitet man das zu? Wo ist der beste Platz für die Fütterung? Welches ist die beste Tageszeit, um den Tieren beim Fressen zuzusehen? Vielleicht würde es Dagmar ja so gelingen, ihre Vogelscheu zu überwinden.
Natürlich hätten wir uns den Einstieg leicht machen, und einfach vorgefertigte Vogelfuttermischungen kaufen können, aber weil Liebe nun einmal durch den Magen geht, sollte es schon was Selbstgemachtes sein und dafür waren auch beim Vogelfutter die besten Zutaten gerade gut genug. Verwendet wurde nur, was wir ohne Zögern auch selbst gegessen hätten. Mit Ausnahme der bei Vögeln beliebten Energiekuchen aus Fett und getrockneten Insekten…
Beim Aufstellen des Vogelhauses wahrten wir Abstand und stellten es zunächst in sicherer Entfernung auf. Trocken und gut einsehbar. Von allen Seiten leicht zu befüllen und zu reinigen. Ein Vogelbestimmungsbuch wurde angeschafft, das Auskunft gab über das „Who is who“ im Garten.
Bald war klar, dass unsere Peepshow kein Nonstop Programm war, sondern sich der Ansturm mit schöner Regelmäßigkeit auf drei Flugwellen pro Tag verteilte. Die meisten Besucher kamen in den frühen Morgenstunden und im letzten Abendlicht. Auch um die Mittagszeit war ganz schön was los. Da kamen dann die jungen, weniger dominanten Tiere, Dazwischen stundenlang Pause, also versäumten wir nichts, wenn wir in der Zeit selbst unserem Broterwerb nachgingen.
Schon bald stachen aus der anonymen Masse der Vögel kleine Persönlichkeiten hervor. Ganz besonders einer mit orangerotem Fleck am Bauch. Ein Rotkehlchen, so lehrte das Bestimmungsbuch. Wir nannten es Hansi. Wobei es auch eine Johanna hätte sein können.
Das Interesse war geweckt. Die beiderseitige Schwellenangst genommen. Sich vertraut machen, das war das Ziel. Zähmen nicht wirklich, aber dann ist es doch passiert. Der niedliche Spatz mit dem roten Fleck am Bauch, legte die Scheu ab und nahm sich eines Tages das Futter direkt aus Dagmars Hand. Was ein paar Monate zuvor ein Schreckensszenario wie aus einem Hitchcock Krimi gewesen wäre, war nun der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
© Caroline Kleibel 2021-04-28
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