Gruß an eine verschwundene Welt
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Berlin Tempelhof. Als wir eines nebligen Nachmittags Anfang Dezember 2003 dort landeten, stiegen mit uns nur eine Handvoll weiterer Passagiere aus. Die Flughafenhalle war verlassen. Kein Schalter geöffnet, keine Geschäfte. Alles wirkte trostlos und dem Verfall preisgegeben. Die vormals schönen Mosaikfliesen an den Wänden waren nur noch ein verblichener Schatten ihrer selbst. Wir wähnten uns auf einem der letzten Flüge, die überhaupt hier gelandet waren. Stimmte nicht, denn ob der Kalamitäten rund um den Bau des neuen Flughafens Berlin Brandenburg, der durch Planungsfehler und Baumängel erst nach 14-jähriger Bauzeit eröffnet werden konnte, musste Tempelhof - zum Leidwesen der geplagten Anrainer - noch eine Weile herhalten, ehe das Gelände 2008 endgültig entwidmet wurde. Mit Tempelhof verschwand ein Stück Airline Geschichte. Eröffnet 1923 spiegelt das heute unter Denkmalschutz stehende Gebäude die wechselvolle Geschichte Berlins wider. Der morbide Charme der Anlage war faszinierend.
Nach Berlin gekommen waren wir, um am Deutschen Theater Berthold Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ mit einer fabelhaften Angela Winkler in der Titelrolle unter der Regie von Peter Zadek zu sehen. Ein wahrhaft großartiges Erlebnis. Für den zweiten Abend wollten wir uns vom Concierge des Hotels beraten lassen. Ein bundesdeutsches Idiom vorgetragen mit tiefer sonorer Stimme weckt in mir immer uneingeschränkten Glauben an die Wahrhaftigkeit des Gesagten. Seine Wegbeschreibung mit Öffis zurück nach Tempelhof war allerdings ein fester Blödsinn. So mussten wir dann ein Taxi nehmen, um mit etwas richtig trashigen die Überdosis an Hochkultur zu neutralisieren. Bei unserer Ankunft hatte ein verblichenes Plakat mit der Ankündigung einer Dinnershow des Revuetheaters Berlin im Flughafen Tempelhof mit dem vielversprechenden Namen “La Vie en Rose” unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Es wurde ein grandioser unvergesslicher Abend.
Das Publikum war spärlich. Unvorsichtigerweise hatten wir uns in die erste Reihe gesetzt. Auch vor den wenigen Besuchern gab die Alleinunterhalterin ihr Bestes. Mit unglaublicher Grandezza stöckelte die Diva von der Bühne herab und setzte sich schwungvoll auf den Schoß meines etwas überrascht dreinblickenden Mannes. So nah hatten wir eine Travestie Künstlerin noch nie gesehen. Gleich dem Verputz in der Flughafenhalle begann auch ihr Makeup zu bröseln, was ihrer Bühnenpräsenz keinen Abbruch tat. Aus der Ferne betrachtet. Das dargebotene Dinner war… wir erinnern uns nicht mehr. Aber die Show der gut 1,90 cm großen Drag Queen war ein Genuss der Sonderklasse. Sie sang Lieder von Marlene Dietrich, Zara Leander und Hildegard Knef und tat das in einer Art und Weise, die uns die Welt rundum vergessen ließ.
Des Trashfaktors nicht genug, besuchten wir noch die Internationale Tattoo Convention. Ein veritables Gruselkabinett. Dergleichen hatte man damals hierzulande noch nie gesehen.
© Caroline Kleibel 2022-02-01
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