Stiefzwillinge
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War es schicksalhaft oder einfach nur unserer Körpergröße geschuldet, dass wir am allerersten Volksschultag nebeneinander in der hintersten Bank des Klassenzimmers landeten? Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Die Bezeichnung Stiefzwillinge für unsere ganz besondere Beziehung haben wir aus einem Kabarettprogramm von Kurt Tucholsky entlehnt.
Nicht gerade aus klassischen Familiensituationen stammend, erzogen wir uns gewissermaßen gegenseitig. Und es ging lange gut. Trotz neunmalkluger Erwachsener, die uns davor warnten, dass es, sobald eine von uns einmal einen Freund hatte, sowieso vorbei sein würde mit unserer innigen Mädchenfreundschaft. Nichts dergleichen geschah. Vorübergehend getrennt hat uns schlussendlich erst unsere Bewerbung für ein Auslandsjahr nach der Matura. Die USA waren Ziel all unserer Mädchenträume. Gemeinsam bewarben wir uns für ein AFS-Stipendum, einem Austauschprogramm für soziales und interkulturelles Lernen. Nach einem herausfordernden Auswahlwochenende mit allerlei Psychospielchen wurde ich schließlich genommen. Meine Stiefzwillingsschwerster hingegen aus unerfindlichen Gründen abgelehnt. Das war schon ein Knacks. Vor allem war ich in der Folgezeit dann mehr mit Reisevorbereitungen als mit Beziehungspflege beschäftigt. Die Aufregung war groß. Viele der anderen Ausgewählten waren bereits in Kontakt mit ihren Gastfamilien, schickten Briefe und Fotos über den Teich. Nur für mich konnte scheinbar niemand gefunden werden. Als die Abreise nahte und meine Chance auf ein Jahr als Austauschstudentin zu schwinden schien, verkroch ich mich nur mehr unter der Bettdecke. Zu groß waren Scham und Trauer, es am Ende doch nicht geschafft zu haben. Der Tag der geplanten Abreise im August 1979 drohte der schwärzeste meines Lebens zu werden, bis ich am Nachmittag telefonisch die erlösende Botschaft erhielt, dass eine Familie für mich gefunden worden war.
Meine Mutter hastete heim vom Büro. Überstürzt und absolut planlos – was nimmt man mit für ein ganzes Jahr im Ausland? - stopften wir alles Mögliche in den Koffer. Wogen ihn. Zu schwer. Etwas von dem Zeug wieder raus. Und ab die Post in Windeseile. Keine Zeit, mich von Familie oder Freunden zu verabschieden. Meine Urgroßmutter würde ich nie wiedersehen.
Am letzten Drücker sprang ich in Innsbruck in den Zug nach Paris. Von dort ging es weiter mit dem Flugzeug nach New York. In einem Vorbereitungscamp verbrachten wir ein paar Tage zur Einschulung, um all die Dos and Don'ts unserer neuen Heimat vermittelt zu bekommen. No drugs. No driving. No hitchhiking. In meiner Aufregung hatte ich statt Autostoppen highjacking verstanden. Eh klar, dass man niemanden entführte…
Und in diesem Camp auf Long Island bekam ich dann auch endlich alle Angaben zu meiner Gastfamilie. Meine Gastschwester hatte denselben Vornamen wie mein geliebter Stiefzwilling, mehr noch, die beiden teilten auch ihren Geburtstag. Ich war angekommen.
© Caroline Kleibel 2021-03-09
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