Abwarten und Klinken putzen
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Es war einmal eine Stadt. Sie hieß Schilda und hatte ein dreieckiges Rathaus. Darauf waren ihre Bürgerinnen so stolz, dass sie ihrer Stadtschreiberin den Auftrag gaben, ein Buch über ihre einmalige Stadt zu verfassen. Dieses sollte an die große Glocke gehängt werden, damit die ganze Welt von Schilda und ihren tüchtigen Bürgerinnen erfahre.
Erichine Kästner, so der Name der Stadtschreiberin, machte sich mit großem Eifer an das Werk. Als es fertig war, suchten die Schildbürgerinnen nach einem Fräulein, das Abschriften des Buches anfertigen sollte. Denn – darin waren sie sich einig – sobald es an die große Glocke gehängt worden war, würde es weggehen wie die warmen Brezen der Bäckermeisterin.
Nun waren aber zu jener Zeit alle Kopistinnen im Umkreis von sieben mal siebenundsiebzig Meilen damit beschäftigt, unbedeutende Bücher unbekannter Schreiberinnen zu kopieren. Die Schildbürgerinnen liefen sich im ganzen Land die Füße wund, ohne eine Schreibkundige zu finden, die ihre Finger zur Mehrung von Schildas Ruhm krumm gemacht hätte.
Da begab es sich, dass der Kaiser neue Kleider brauchte und diese in Schilda bestellte. Das dortige Schneiderlein hatte sich nämlich mit seiner Tapferkeit einen Namen gemacht. Als der kaiserliche Diener vorfuhr, um das prächtige Gewand abzuholen, bewies das Schneiderlein neuerlich seinen Mut und stellte eine Frage: Ob der Diener von einem Fräulein wisse, das Abschriften von Erichines Buch verfassen könnte? Der Diener wiegte eine Weile nachdenklich den Kopf und sagte schließlich: „Gute Kopierfräuleins zu finden ist äußerst schwierig. Da hilft nur Klinken putzen.“
Das Schneiderlein schlug sich an die Stirn. „Dass wir da nicht selbst darauf gekommen sind! Natürlich will sich keines der feinen Fräuleins die Finger an unseren Klinken schmutzig machen!“ Es bedankte sich für den weisen Rat und noch am selben Tag machten sich alle Schildbürgerinnen daran, ihre Klinken zu putzen. Sie rieben und rubbelten mit Schweineschmalz und Vogelsand, bis die Schnallen wie Gold glänzten. Danach hängten sie die Putzlappen zum Trocknen auf die Wäscheleine und warteten.
Schon bald erreichte die Nachricht von den goldenen Schnallen den Kaiser. Der war darob so entzückt, dass er seinen Diener zu sich rief und ihn hieß, sich nach Schilda aufzumachen. Seine goldenen Ringe waren nämlich mit den Jahren matt geworden.
„Verratet mir das Geheimnis, wie Ihr Eure Klinken geputzt habt, ehrwürdige Bürgerinnen von Schilda“, sagte der Diener, „Ihr werdet dafür kaiserlich belohnt.“ „Wir wollen euer Gold nicht“, erwiderten die Rätinnen, „wir begehren stattdessen, die Dienste Eures hochedlen Kopierfräuleins in Anspruch zu nehmen.“
So kam es, dass die Ringe des Kaisers golden an seinen Zehen glänzten, während in Schilda ein Buch an die große Glocke gehängt wurde. Es sorgte in den folgenden Jahren dafür, dass den Schildbürgerinnen kein bisschen Berühmtheit durch die Lappen ging.
© Christine Mayr 2022-07-10
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