Das Almvieh in seinem Revier
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Ich sitze auf einem Felsvorsprung, von dem aus ich das Geschehen auf der Dorfstraße im Blick habe. Es ist derselbe Felsen, auf dem das Murmeltier gestanden ist und gepfiffen hat, als ich an der Hand meines Vaters zu den Finstertaler Seen wanderte. Die hatten gar nichts Finsteres an sich, sondern lockten mit blau-grüner Wasserpracht. Heute sind sie ein Stausee von milchigem Türkis. Die Staumauer kann ich von meinem Hochsitz aus sehen.
Ich sitze also hoch über dem Ort und beobachte das Geschehen auf der Dorfstraße. Was heißt hier Dorfstraße! Autobahn passt besser, auch wenn ein Tempolimit von 50 Stundenkilometern gilt, weil: lambs on road. Nein, falsch, das war in England, wo Schafe und Ponys ihre Siesta auf der Straße hielten.
Hier hingegen heißt es Achtung, unbeaufsichtigtes Weidevieh! und es sind Kühe mit nicht gestutzten Hörnern, Haflinger mit blond wehenden Mähnen und weiße Eselchen, die die Straße als Teil ihres Reviers betrachten.
Diese scheinbar vierspurige Straße, die im Winter ein schmales Gässchen zwischen parkenden Autos, schischuhklappernden Gästen und eine Parklücke suchenden SUVs mit Särgen auf dem Dach ist, gegen Ende des Tages flankiert von Après-Ski-abgefüllten Torkelgestalten, umrahmt von unmusikalischem Jagatee-Gegröle.
Nicht im Sommer, nicht heute. Die Parkplätze weite Schotterflächen mit vereinzeltem Grünwachstum, das ein Fohlen schmackhaft findet. Gemächlich in die Höhe strebende Wanderer, verwaiste Hotelterrassen, geschlossene Läden für Schiverleih oder Schikursbuchung.
Nur die Terrasse unten beim Sessellift ist bevölkert. Schnittige Jungmänner mit sonnengebräunten Unterarmen klick-klacken sich zu ihren großen Radlern, die sie sich nach der harten Bergetappe auf ihren filigranen Rädern redlich verdient haben. Grimmig gekleidete Lederjungs mit strahlenden Gesichtern steigen von ihren Motorrädern und stärken sich mit Schubkarren voller gegrilltem Fleisch und gelb frittierten Pommes. Dazwischen sitzen die Weißhaarigen unter den Sonnenschirmen, den Rollator neben und einen Eisbecher vor sich, selig, den Bergen nahe sein zu können. Der Straße sei Dank.
Sie alle, die Sportlichen und die Fußmaroden, die Lauten und die Schnellen, die Ehrgeizigen und die von ihrem Gipfelsieg oder Eisbecher Beglückten, sie alle eint bei der Heimfahrt eines: der Respekt vor dem Almvieh in seinem Revier. Sie alle fahren bremsbereit hinaus aus dem Ort, vorbei an den Kühen, den Stieren, den Pferden und Eseln. Und bleiben stehen, wenn eines der Almvieher die Straße zu queren gedenkt. Wissend, dass das dauern kann, denn von diesen Tieren wurde die schnelle Gangart nicht erfunden. Manch einer deutet mit seiner Hand einen Gruß an, lässt die Fenster hinunter und schaltet den Motor aus.
Ich habe es jedenfalls so beobachtet, von meinem Felsvorsprung aus. Und wenn mich nicht alles täuscht, hat hinter meinem Rücken ein Murmeltier gepfiffen. Anerkennend, nicht warnend.
© Christine Mayr 2020-07-26
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