Der liegende Turm von Babel
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In einem fernen Land nahöstlich von Schilda lebte einst ein wohlhabender Mann. Sein Name war Bethel und als er in seine besten Jahre gekommen war, hielt er um die Hand der schönen Babel an. Als Morgengabe versprach er ihr einen Turm, so hoch, dass er die Fußsohlen der Sonnengöttin kitzeln würde.
Bethel entsandte zwei seiner schönsten Tänzerinnen nach Schilda und trug ihnen auf, Baumeister Kartenhaus mit all ihren Verführungskünsten zu umgarnen, auf dass er zustimme, den Turm für Babel zu bauen. Kartenhaus empfing die beiden in seinem Elfenbeintürmchen und sie bepinselten seinen Bauch mit den schillerndsten Farben, bis er einwilligte, das gewünschte Bauwerk zu entwerfen. Daraufhin luden sie ihn ein, auf ihrem Teppich Platz zu nehmen und mit ihnen zu Bethel zu fliegen. Kartenhaus musste die freundliche Einladung jedoch ausschlagen, da er an akuter Flugangst laborierte. Die Tänzerinnen wiegten nachdenklich ihre Hüften und nach einigem Hin und Her hatten sie die rettende Idee. Kartenhaus sollte seine Pläne auf Pergamentrollen zeichnen und diese mit Brieftauben in das Land der aufgehenden Sonne schicken. Der Baumeister war einverstanden und wenige Wochen später kamen die Pläne für den Turm, der die Wolken kratzen sollte, bei Bethel an. Dieser ließ unverzüglich die Arbeiten beginnen, denn sein Verlangen, Babel zu ehelichen, war groß.
Nun war es aber so, dass die Sonne in seinem Land nicht nur aufging, sondern den ganzen Tag lang heiß am Himmel stand und der Bautrupp ein bunt zusammengewürfelter Haufen war. Der Schweiß der Lehmziegelbrenner tropfte auf das Pergament und verwischte die Linien, die der Baumeister gezogen hatte. Der chinesische Werkmeister las die Pläne von oben nach unten und gab Anweisung, den Grundstein für das Bauwerk auf einem Berggipfel zu legen. Die Maurer aus Arabien lasen von rechts nach links und stellten die Ziegel nebeneinander auf, anstatt sie aufeinander zu türmen. Die Inder wiederum brachten den Mörtel an der Unterseite der Ziegel an, wie sie es von den Buchstaben ihres Alphabets gewöhnt waren. Allen zusammen gefielen die Rundungen Babels, weshalb sie zwischen Ziegeln und Steinen Wölbungen frei ließen. So entstand eine Brücke, die sich sachte und stet ins Tal senkte und bei Regen Wasser führte.
Als Bethel sah, was aus seinem Turm für Babel geworden war, wollte er vor Zorn in die Luft gehen. „Man entrolle meinen Teppich!“, rief er. „Ich reise umgehend nach Schilda und erwürge diesen nichtsnutzigen Baugesellen!“ Babel jedoch hielt ihn zurück. „Besänftige deinen Zorn“, sagte sie und führte ihn zu einem Becken am Ende des liegenden Turms, den sie Aquädukt genannt hatte. Mit einer anmutigen Bewegung entledigte sie sich ihres Gewands und stieg in das blau-klare Nass. Da lag sie in der unverhüllten Schönheit ihres wohlgeformten Körpers und Bethels Zorn verflog. Er sprang mit einem gekonnten Bauchfleck zu seiner Angebeteten ins Wasser und feierte augenblicklich Hochzeit mit ihr.
© Christine Mayr 2022-08-08
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