Des Morpheus zickige Zuneigung
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Verstehe eine die Männer! Auch wenn sie sich Götter nennen. Naiverweise würde man annehmen, Götter seien dazu da, einem verzweifelten Menschlein in göttlicher Weisheit tröstend und wegweisend zur Seite zu stehen, das Flehen zu erhören, das es gen Himmel sendet, wenn es am Ende seiner menschlichen Weisheit ist. Wie Katharina.
Aber auch Götter sind tückische Gestalten, erzählt uns die Mythologie. Als der Gott des Schlafes noch Grieche war und Hypnos hieß, war sein Wesen freundlich und den Menschen zugewandt. Doch als er Römer wurde, änderte er seinen Charakter. Nun Somnus gerufen, zeigte er sich als verschlagener Typ. Den zuverlässigen und umsichtigen Palinurus, der Aeneas‘ Schiff vom zerstörten Troja nach Italien steuerte, versetzte er in Schlaf, um ihn dann in den Wellen des Meeres zu ertränken. Von Hypnos‘ Sohn Morpheus, dem für die Träume Zuständigen, hörte man gar nichts mehr. Obwohl er Katharina der liebste ist. Wenn sie ihren Gott des Schlafes anruft, nennt sie ihn Morpheus. Weil der Klang seines Namens Musik in ihren Ohren ist.
Doch ihr Morpheus ist zum Somnus geworden. Er verweigert seine Umarmung, überlässt Katharina der Qual des Wachseins. Nacht für Nacht. Er, der Gott, dessen Arme sie sich um ihren geplagten Körper wünscht, verschränkt diese und wendet sich ab. Unbarmherziger!
Und Undurchschaubarer. Am helllichten Tag nämlich, wenn die Sonne ihren Abstieg vom Zenit beginnt, wenn der Mittagshunger gestillt ist und der Geschirrspüler sein Abwaschlied singt, öffnet Morpheus seine Arme, lockt mit süßen Träumen und breitet weiches Wegdämmern über Katharina. Warum schenkt er ihr das nicht nächtens? Führt er etwas im Schilde? Die Wege eines Gottes sind ja oftmals verschlungen, wie die katholischen Prediger Katharina gelehrt haben. Vielleicht hat es ja System, wenn er ignoriert, dass ihr die Ideen ausgehen, wie die Nacht zu nutzen wäre.
Denn manchmal, wenn Katharina entnervt ihr Bett verlässt, um bei einer Zigarette auf der Veranda die schlafende Baustelle im Hinterhof anzuschauen, schleicht sich die Muse an. Ich hätte eine Idee, kokettiert sie. Magst nicht Bleistift und Papier holen? Aber ich bin doch müde, gähnt Katharina dann. Nicht mehr lange, sagt die Muse. Meine Idee wird dich aufmuntern. Gib ihr eine Chance.
Und weil alle anderen Ideen für die Nutzung der Nacht abgenutzt sind, der Geschirrspüler ausgeräumt, die Challenge gegen den Computer gewonnen, der letzte Krimi gelesen und alle Tonleitern am Klavier gespielt sind, holt Katharina Papier und Bleistift. Den Radiergummi auch, sagt die Muse, ich diktiere ja nicht druckreif.
Ehe sich die beiden versehen, erwachen die Maschinen der Baustelle, schleicht die Sonne über die Bergkante und Katharina stellt sich einen Kaffee auf. Nach dem Frühstück wird sie die Bleistiftskizzen in die Maschine tippen und am Nachmittag von Morpheus mit seiner Zuneigung belohnt werden. Bestimmt.
Foto: Kate Stone Matheson on Unsplash.com
© Christine Mayr 2022-06-06
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