Die Vermessung der Schmerzen
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Die Physiotherapeutin lässt Katharina stehen und ein Bein anwinkeln. Sie lässt sie sitzen und den Kopf senken. Sie lässt sie die Füße überkreuzen und das Becken rollen. Sie will wissen, wo genau der Schmerz und wie. Ob brennend, bohrend, stechend, drückend. Und wie stark, auf einer Skala von eins bis zehn.
Aber Katharinas Beschwerden wissen von all diesen Kategorien nichts. Sie fügen sich nicht ein. Sie lassen sich nicht einfügen. Die Schmerzen wandern, ihre Stärke ist tagesabhängig und sie können sich oft nicht entscheiden, ob sie stechen, brennen oder bohren sollen. Nur dass sie da sein wollen, das stellen sie nie in Frage.
Der Rheumatologe klopft mit dem Hämmerchen auf Katharinas Knie, lässt ihren Zeigefinger die Nasespitze finden. Lässt Katharina auf einem Strich gehen und zieht an ihren Fingern, quetscht ihre Zehen, klopft auf die Knöchel und fragt sie. Wo genau der Weh ist und wann. Ob sie in der Nacht davon aufwacht. Ob die Hände Kälte oder Wärme lieber mögen. Am ganzen Körper, sagt sie, und immer und nein und Kälte.
Er nimmt ihr Blut ab und schickt sie zum Röntgen. Ja, sagt er, Entzündungen in den Händen und die Rheumafaktoren an der oberen Grenze des Normbereichs. Das hoch wirksame Präparat schlucken, meint er. Was ist mit den Faktoren?, fragt Katharina und sagt: An der oberen Grenze – das heißt doch: im Normbereich, also normal? Könne man so sagen, meint der Arzt.
Habt ihr gehört, sagt sie zu ihren Schmerzen, es gibt keinen Grund für euch, da zu sein, schleicht euch. Und sie schleichen sich.
Um wiederzukommen. Und wieder zu gehen. Und wiederzukommen.
Was ist Rheuma eigentlich?, fragt Katharina den Arzt. Wandernde Schmerzen, sagt er und sie weiß, wovon er redet. Ihre wechseln ständig die Lieblingsplätze. Hände, Füße, Knie, Hüften, Schultern, Schläfen.
Sie nimmt Medikamente, sie nimmt keine. Der Schmerz bleibt dabei: Er kommt, wann er will, wohin er will und geht, wann er will.
Was willst du denn von mir?, schreit sie ihn an, fleht sie ihn an. Gib mir eine Antwort! Sag mir, was du mir sagen willst! Sprich nicht so verschlüsselt! Hast du eine Botschaft für mich? Eine Botschaft der Seele? Sag!
Welche Seele, welche Botschaft, sagt der Schmerz. Ich bewahre dich nur davor, übermütig zu werden.
Foto: CDC on Unsplash.com
© Christine Mayr 2022-06-03
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