Die vernachlässigten Tageszeiten
- 75

Guten Morgen!, sagte die Trafikantin und stutzte. Darf man das überhaupt noch sagen?
Ich war einen Moment lang ratlos. Habe ich etwas verpasst? Welchen Grund könnte es geben, nicht mehr Guten Morgen! sagen zu dürfen? Ist es der politischen incorrectness überführt worden?
Es ist halb elf, erklärte die Trafikantin. Mir fiel ein Stein vom Herzen, ich hatte kein neues Verbot überlesen.
Kommt darauf an, wann man aufgestanden ist, schlug ich deshalb vor. Guten Mittag! gibt’s ja nicht.
Doch, sagte sie, im Radio sagen sie das manchmal.
Das war mir neu. Warum aber nicht?
Der Mittag ist ja grußtechnisch eine völlig vernachlässigte Tageszeit. Guten Morgen! sagt man, Guten Abend! auch und Gute Nacht! Warum nicht Guten Mittag? Von Vor- und Nachmittag einmal abgesehen.
Weil der Tag da schon halb gelaufen ist und nicht gehalten hat, was der Morgen versprochen hat? Und erst später dann, wenn die Schatten lang geworden sind und sich das Licht mit dem Tag zu verabschieden anschickt, eine neue Chance aufkommt? Die Chance, dass Abend und Nacht einen neuen Ton anschlagen, einen freundlicheren, einen sich vom Tag abhebenden, neues Glück verheißenden?
Dem Dilemma könnte man sich mit Guten Tag! entziehen. Ein Gruß, der keine Tageszeit diskriminiert. Allumfassend, allübergreifend, niemanden außen vor lassend. Guten Tag! schließt den Morgen ein, den Mittag und alle Befindlichkeiten dazwischen.
Doch etwas in mir sperrt sich dagegen, Guten Tag! zu sagen. Es liegt nicht am Klang, auf den man hier, geprägt von Piefkesaga und Grüß-Gott-Tradition, sensibel reagiert. Dagegen könnte man aufstehen, eine neue Tradition gründen. Nein. Es liegt eher an den reichen Farben der Tageszeiten.
Der Morgen verheißt Frische, neuen Mut und resche Semmeln. Der Abend Last ablegen, durchschnaufen, Füße hochlagern und Spielfilm der Woche. Die Nacht verspricht weiche Pölster und warme Decken, Zärtlichkeit oder Leidenschaft, Traumreisen und Vergessen. All das bleibt ungenannt, schwingt nicht mit, wenn ein guter Tag gewünscht wird.
Guten Mittag! füllt eine Lücke. Die nach Gaumenfreude und Smalltalk klingt. Nach die-Hälfte-der-Pflicht-ist-getan, bald-dürfen-wir-zur-Kür.
Meinereins bräuchte allerdings dringender das Wünschen eines guten Nachmittags. Denn meinen Nachmittagen fehlt der Biss. Lange Sonnenfinger beleuchten den Schmutz in den innersten Ecken der Wohnung, doch die Energie, etwas dagegen zu tun, hat der Vormittag aufgebraucht. Guten Nachmittag! könnte dem entgegenwirken, könnte Prickeln, Hoffnung und Aufschwung bringen.
Ich bin dafür, die Tageszeitendiskriminierung abzuschaffen. Ab jetzt: Guten Mittag!, Guten Nachmittag! Die anderen, die neutralen, die inklusiven Grüße, die Guten-Tags, Grüß-Gotts und Hallos überlassen wir den Momenten, in denen wir auf den Regenbogen der Tageszeiten pfeifen.
Foto: Cooper Baumgartner on Unsplash
© Christine Mayr 2021-10-14
Kommentare
Jede*r Autor*in freut sich über Feedback! Registriere dich kostenlos,
um einen Kommentar zu hinterlassen.