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#perfektionismus

Egal, schnurzegal, schnurzpiepegal

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Egal, schnurzegal, schnurzpiepegal | story.one

Mir ist langweilig. Ich weiß nicht was mit mir anfangen. Ich schlurfe durch die Wohnung, schaue aus dem Fenster, zähle die Menschen auf der Straße und streiche glatte Pölster glatt. Ich öffne und schließe die Türen meiner Schränke, als ob aus einem von ihnen eine Idee springen könnte, DIE Idee. Ich mache sogar die Tür zur kalten Kammer auf, in der selten Gebrauchtes vor sich hin verstaubt.

Auf einer Schachtel ist der Deckel verrutscht und lässt durchblicken, was sich darunter verbirgt: alte Wollreste. In allen Farben, in allen Fadenstärken, aus jedem erdenklichen Material. Von flauschigem Merino über kratzige Tiroler Schafwolle bis zu kunststoff-strotzender Billigkeit. Ich wühle mich durch das ausrangierte Sortiment und lege den einen und anderen Knäuel auf den Schachteldeckel. Am Ende geben fünf von ihnen eine fröhliche Reihe ab. In einem alten Strickheft finde ich eine Anleitung für Stulpen. Etwas, das im Winter die Knöchel wärmt, kann ich immer brauchen.

Bevor man loslegt, macht man eine Maschenprobe. Die ist ein Muss für tadelloses Strickwerk. Aber wer redet denn von tadellos? Ich will doch nur meine Langeweile vertreiben.

„Und deinen Perfektionismus überwinden“, sagt da ein Stimmchen in mir. „Vergiss die Maschenprobe. Fang einfach an.“

Gehorsam schlage ich 55 Maschen an, dann stricke ich abwechselnd zwei weiße und zwei blaue. In der nächsten Reihe drei schwarze und eine weiße und in der dritten Reihe eine rote und fünf türkise. Nach sechs Reihen sind die Fäden unentwirrbar miteinander verwickelt. „Schneid sie ab“, sagt das Stimmchen.

Zwei Reihen weiter sind nur mehr 54 Maschen auf der Nadel. Wo ist die 55. hingeraten? Hinuntergefallen ist sie nicht, das würde ich sehen. „Macht nichts“, sagt das Stimmchen, „nimm halt wieder eine auf.“ Aber das Muster stimmt jetzt nicht mehr mit der Strickschrift überein! „Vollkommen unerheblich“, höre ich, „wer merkt das schon?“ Und ich weiß nicht, ob von der grünen Wolle genug da ist! „Wurscht. Das siehst du früh genug.“

„Und dann?“

„Dann lässt du dir eine Lösung einfallen. Ich lege mich jetzt hin, aber ich lasse dir meine Kolleginnen da, die dir zur Seite stehen, wenn du wieder meinst, deine Strickerei müsse makellos werden. Sie heißen Egal, Schnurzegal und Schnurzpiepegal. Die rufst du im Fall. Viel Spaß!“

Ich brauche sie alle drei. Die dicken weißen Maschen verdecken die dünnen grünen! – Egal. Ich habe eine Reihe übersehen! – Schnurzegal. In der zweiten Stulpe habe ich sie aber gestrickt! – Schnurzpiepegal! Nur einmal verzichte ich darauf, Stimmchen Mir-doch-schnepf und ihre Helferinnen zu bemühen: als sich Fäden quer über die Vorderseite des Handwerks spannen. Da trenne ich dann doch eine Reihe auf.

Ist ja auch angeraten. Denn sonst hätte ich mein Antiperfektionismus-Projekt perfekt durchgezogen. Das wäre dem Stimmchen sicher nicht egal gewesen.

© Christine Mayr 2021-07-30

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