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Ein Matterhorn im Bett

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Ein Matterhorn im Bett | story.one

Schuld war der Dalai Lama. Oder jemand, der sich fĂŒr ihn ausgab. Von ihm flatterten mir zur Jahrtausendwende 19 Weisheiten ins Haus. Auf einem Zettel, den ich weitergeben sollte, an je mehr Menschen desto besser. Mein Leben werde sich Ă€ndern, versprach das billig kopierte Blatt, je nach Anzahl der BeglĂŒckten leicht bis drastisch. Alles wovon ich getrĂ€umt habe, werde Form annehmen. Punkt 17 des Mantras lautete: „Tue jeden Tag etwas gegen deine Gewohnheit.“

Das fiel mir ein, als ich an einem der Tiefpunkte meines depressiven Lebensabschnitts das Bett machte. Als ich mich eingesperrt fĂŒhlte in den immer gleichen Gedanken des Hamsterrads im Kopf. Als ich davon trĂ€umte, Geschichten zu schreiben, aber keine einzige Idee hatte. Als mich der schwarze Vogel Traurigkeit fest in seinem Griff hatte und ich mich an vertrauten Handlungen festhielt wie eine Ertrinkende am sagenumwobenen Strohhalm.

MĂŒssen wir die Bettdecke immer schnurgerade ausrichten und den Kopfpolster parallel zur Bettkante hinlegen?, fragten meine HĂ€nde. Ja, sagte der Kopf, das sieht ordentlich und aufgerĂ€umt aus. Und wir haben es immer so gemacht. Es gibt keinen Grund, aus dieser guten alten Tradition auszuscheren. Doch, sagten die Finger, es gibt einen: Wir haben Lust dazu. Und die Seele ergriff fĂŒr sie Partei und flĂŒsterte: Außerdem hat es der Dalai Lama empfohlen – einmal pro Tag etwas gegen die Gewohnheit.

Der Kopf gab sich geschlagen und die Arme fuhren unter das Federbett. Die HĂ€nde schĂŒttelten es wie Frau Holle und die Finger schnappten sich eine Stelle in der Mitte. Hoben die Tuchent in die Höhe, ließen ihre Enden fallen und zwirbelten den Schopf. Als sie fertig waren, stand ein Berg in meinem Bett, schön wie das Matterhorn.

Das machen wir jetzt jeden Tag so, entschied ich und rede seither meinen HĂ€nden nicht mehr drein. Jeden Morgen haben sie eine andere Idee. Mal stellen sie den Polster als Tetraeder auf, mal rollen sie die Pyjamahose zur Spirale ein, mal streichen sie die Decke aus und richten ihre Kanten parallel zum Bettrand aus.

Ich hatte meine Freude damit und ließ die TĂŒr zum Schlafzimmer offen. Der Anblick von Matterhorn oder Scheipenbichl heiterte meine oft so traurige Psyche auf.

Diese TĂŒr muss es gewesen, durch die eines Tages die Muse schritt. Was deine HĂ€nde können, kann dein Kopf auch, sagte sie. Du setzt dich jetzt an deinen Schreibtisch und ich schenke dir einen ersten Satz. Dann kommen deinem Kopf sicher Ideen.

So war es. Mein Kopf nahm die EinfÀlle auf wie die Finger die Tuchent und zwirbelte sie zu SÀtzen und AbsÀtzen. Das Schreiben von Geschichtchen und Geschichten heiterte mein nicht mehr ganz so trauriges Psycherl auf.

Wovon ich getrÀumt hatte, begann Form anzunehmen. Mein Leben Ànderte sich leicht bis drastisch. Obwohl ich den Zettel mit den Worten des Dalai Lama keiner einzigen Seele weitergegeben habe.

© Christine Mayr 2022-06-01

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