Entscheidung im Frisiersalon
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Ich löste die Spange und schüttelte meine Haare. Sie fielen mir bis zur Schulter. Weich und seiden. Für einen Augenblick fühlte ich mich jung. Zwanzig. Damals reichten die Haare schwarz und satt bis zu den Pobacken. Meistens trug ich sie offen. Der Wind spielte darin, meine Finger spielten darin und mein Herzensmeister spielte damit.
Bis er eine andere mit langem, offenen Haar begehrenswerter fand. Seit damals trage ich die Haare kurz. Emanzenkurz, wie Herzensmeister Nummer zwei angewidert feststellte.
Im Büro wurde der Emanzenschnitt zum Businessstyle. Alle sechs Wochen nachschneiden, das erste Grau zwischen Meschen verstecken. Kein Herzensmeister da, es zu kommentieren, angetan oder abgeturnt. Keine freundlichen Finger, die kraulen.
Und jetzt streichen sie über meine Schulter, meine Altweiberhaare. Ich bin nachlässig geworden, zuhause, mit dem schwarzen Vogel als einzigem Begleiter. Es ist egal geworden. Bürotaugliche Properheit spielt keine Rolle mehr. Graue Strähnen, kein ordentlicher Schnitt - egal. Sie wachsen über die Ohren, hängen strähnig ins Gesicht - egal. Sie in einer Spange verräumen, mit einem Gummiband züchtigen – egal.
Ui, das schaut nach gar nichts mehr aus, sagt die Friseurin. Da braucht’s einen ordentlichen Schnitt und ein bisschen Farbe. Dann schauen Sie um zehn Jahre jünger aus.
Zehn Jahre jünger aussehen macht mich nicht zehn Jahre jünger, denke ich. Und für wen? Wofür? Wozu?
Ich schüttle meine nassen Haare. Spüre ihre Spitzen auf meiner nackten Schulter. Ich schließe die Augen. Wie mit zwanzig, denke ich. Ich werde nie mehr zwanzig sein. Nie mehr wird mir einer auf der Straße nachpfeifen. Nie mehr wird einer einen Zopf in meine Haare flechten und sagen, so schön. Nie mehr wird einer bei der Zigarette danach eine Strähne um seine Finger wickeln und sagen, es war so schön.
Ich werde auch nie mehr vierzig sein und proper aussehen müssen. Nie mehr werde ich Blazer und dezenten Ausschnitt zu Hosen tragen müssen. Nie mehr werde ich dekorative Assistenz eines Politikers sein müssen. Nie mehr das vernichtende Urteil einer Parteibasis fürchten müssen.
Lassen wir die Farbe weg, sage ich zur Friseurin. Lieber alltäglich silberne Fäden im Haar als alle paar Wochen zwei Zentimeter unansehnlicher Nachwuchs. Ich bin es müde.
Und welchen Schnitt machen wir? So wie früher? Oder möchten Sie sie jetzt länger tragen?
Wachsen lassen, denke ich. Aufstecken. Am Abend die Spange lösen und die Haare schütteln. Einen Moment lang zwanzig sein. Allabendlich einen Moment lang zwanzig sein.
Wachsen lassen, sage ich.
© Christine Mayr 2020-10-10
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