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Flieg, Gedanke!

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Flieg, Gedanke! | story.one

Es ist kurz vor Mitternacht, Antonia schaltet den Fernseher ein. Eine neue Ära beginnt. Die Ära der Gleichheit und immerwährenden Freundlichkeit.

Antonia wartet vergeblich auf ein freudiges Kribbeln in ihrem Seelenkostüm. Sie sitzt da, als ob jedes Jahr ein neuer Staat gegründet, eine neue Gesellschaft ausgerufen würde.

Die Kamera schwenkt zur Menschenmenge vor der Stefansburger Kathedrale, wo jemand eine Champagnerflasche öffnet. Antonia hat sich nicht einmal ein Glas Wein eingeschenkt. Obwohl sie sich dem Ziel Bravaniens durchaus verbunden fühlt. Nämlich die verloren gegangene Balance zwischen Mensch und Mensch, Tier und Mensch sowie Natur und Mensch wiederherzustellen.

Als die Kanzlerin die Bühne betritt, wird sie von Applaus begleitet. Sie grüßt mit einer Hand auf ihrem Herzen die Menge und bedeutet ihr dann zu schweigen. „Liebe Freundinnen und Freunde! Damit es uns gelingt, das Gleichgewicht zwischen dem Planeten Erde und seiner Bewohnerin Menschheit wieder herzustellen, bitte ich euch, die Drei Gebote zu beherzigen und mit aller Kreativität umzusetzen.“ Sie hält eine schwarze Schiefertafel in die Höhe, auf der mit weißer Kreide geschrieben steht: „Zero statt Plastik, Muskeln statt Maschinen, Natur statt Chemie.“

Antonia braucht nun doch ein Glas Wein.

„Benützt auch den neuen Gruß culpa, der uns daran erinnert, wie viel Schuld unsere Gesellschaft im Laufe der Jahrhunderte auf sich geladen hat. Und wendet das Gendersprech an, das unser Streben nach Gleichheit unterstützt. Denn Sprache schafft Bewusstsein.“

Antonia nippt an ihrem Biozweigelt aus Ebenreich. Es kommt wieder die Moderatorin ins Bild.

„Wir schalten noch einmal nach Stefansburg, wo der berühmte Chor Gleichklang den Lobpreis auf unser Land anstimmen wird. Den Taktstock schwingt Generalmusikdirektor Franco Casadietro persönlich.“ Vor dem Portal der Kathedrale stehen Frauen und Männer mit goldfarbenen Schals, auf denen Das Ausgeglichene Amslerich prangt, das Wappentier Bravaniens. Es ist eine Amsel mit dem schwarzen Gefieder der Männchen und dem braunen Schnabel der Weibchen. Der Dirigent gibt das Zeichen zum Einsatz und die Stimmen heben zu singen an. „Flieg, Gedanke, auf goldenen Flügeln, dorthin wo alle Menschen Freunde sind. Oh Bravanien, so schön und verheißungsvoll, entfache Ruhe in unserer Brust, lass verebben den Zorn, die Unterschiede, den Hass.“

Nachdem der letzte Ton verklungen ist, bleibt es für ein paar Atemzüge still und Antonia schaltet den Fernseher aus. Sie geht mit einer Zigarette auf die Terrasse und horcht in die Stille der Nacht hinaus. Kein einziges Feuerwerk hat es dieses Jahr gegeben. Sie verzichtet gern darauf und Big Boss weint der Knallerei keine Katzenträne nach. Er hat sich neben ihre Füße gesetzt und schaut mit ihr in die Nacht. Sternenklar, ein Dreiviertelmond über den Bergen. Da kann keine Politikerrede mithalten, neue Ära hin, Egalität her.

Foto: Rock Staar on Unsplash.com

© Christine Mayr 2022-12-30

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