Frühlings Erröten
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Sie hat sich schon gefragt, wo er bleibt. Seit Wochen scheint die Sonne, steigen die Temperaturen, bevölkern Sonnenhungrige die Parkbänke. Er war immer ein verlässlicher Teil dieser Szenerie gewesen. Auf einer Bank unter dem Magnolienbaum, Pfeife rauchend, Handy lesend, von weitem an seinem Fahrrad zu erkennen, das er immer neben sich abstellte.
Der Frühling begann, zuerst meteorologisch, dann astronomisch. Die Gärtner befreiten die Beete um Brunnen und Teich von ihrer winterlichen Taxendecke und setzten Narzissen-, Hyazinthen- und Tulpenzwiebeln. Das frische Erdreich schützten sie mit Hanfseilen vor den unbedacht über Wiesen Radelnden, Laufenden oder Tapsenden.
Die Beete begannen zu sprießen und der Pfeifenmann ward noch nicht gesehen. Er wird doch wohl nicht? Bei Männern in seinem Alter weiß man nie. So ein Winter mit Kälte und Corona kann schnell einmal. Den Stärksten. Den Kräftigsten. Zu denen der Pfeifenmann ohne jeden Zweifel gehört. Unübersehbar wie sein Fahrrad auch seine Statur.
Sie setzt sich auf einen Stein am Bach, die Sonne im Rücken, einen kühlen Hauch im Gesicht. Noch schmilzt der Schnee auf den Bergen nicht und der Bach rauscht frühlingsleise. Sein Wasser ist tiefgrün und kieselklar. Auf vereinzelten Uferbäumen erstes, schüchternes Grün. Über die Brücke radeln gebeugte und gestreckte Rücken, die meisten berucksackt. Auf den Wiesen, zwischen Beeten und rost-verzierten Metall-Insekten machen Unerschrockene ihre ersten Atem-, Dehn- und Streckübungen nach der Winterfaulheit, Väter sitzen im Gras und schubsen Schaukelkinder an.
Sie hat mit dem Pfeifenmann nie ein Wort gewechselt. Er ist immer nur da gewesen. Sie ist immer nur an ihm vorbeigegangen und hat nickend gegrüßt. Außer in jenen Tagen vor zwei Jahren, als weiß-rote Bänder den Spielplatz knebelten und die Uferpromenade gesperrt war. Als kein Flugzeuggeräusch den Bach in seinem Plätschern störte und nur Kinderweinen die Parkstille durchdrang. Als alle Parkbänke leer blieben.
Die Uhr am Kirchturm und die samstägliche Sirene verkünden, dass es Mittag ist. Zeit, die Einkäufe nach Hause zu tragen. Neben der noch grünlosen Kastanie steht ein Fahrrad. Der Pfeifenmann blättert in seinem Handy. „Ich habe Sie schon vermisst“, sagt sie. „Mir ist es bis jetzt zu kalt gewesen“, sagt er und über seine Wangen zieht ein zartes Rot. Es wird wohl von der noch ungewohnten Sonnenwärme kommen.
© Christine Mayr 2022-03-28
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