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Geburtstagsumtrunk

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Geburtstagsumtrunk | story.one

Die Bank steht in der Sonne, die Sonne hoch am Himmel. Trotzdem ist es kühl. An diesem Tag mitten im November. Die Strahlen der Sonne geben nicht viel Wärme her und kein Südföhn wärmt.

Erna hat in weiser Voraussicht Pölsterchen mitgebracht, eines für sich, eines für ihre Gäste. In ihrem Alter tut man sich besser keine verkühlte Blase an. Schon gar nicht, wenn die Krankenhäuser jeden Tag mit Überlastung drohen.

Sie legt die Popsch-Wärmerchen auf der Sitzfläche der Bank aus und setzt sich. Der Herbst hat für festliche Dekoration gesorgt. Gelb die Ahornblätter, rot die des Weins und grün die Wiese rund um den Spielplatz. Erna ist zufrieden. Schöner wäre es in ihrem Wirtshaus auch nicht. Wenn es offen hätte. Wenn kein Virus umginge. Wenn sie die Einladung nicht hätte absagen müssen. Wenn die anderen nicht gekniffen hätten. Ein Treffen in Corona-Zeiten? Nein, danke.

Ein Gläschen in Ehren? Ja, bitte, hat sich Erna gesagt und den Piccolo aus dem Kühlschrank genommen. Und weil der Himmel so blau und die Wohnung so still, hat sie ihr Rucksäckchen gepackt und ist in den Park gegangen. In den hohen Schuhen, im langen Mantel, zwei Gläser gut geschützt in Leinen gewickelt. Denn Scherben kann sie heute keine gebrauchen, auch wenn die Glück bringen sollen.

Erna wickelt die beiden langstieligen Flöten aus dem Stoff und breitet ihn zum Tischtuch aus. Sie schraubt das Fläschchen Sekt auf. Halbtrocken, wie sie ihn am liebsten mag. Beim Einschenken schäumt das perlende Gold, halbvoll ist fürs Erste genug.

Ihr Blick wandert über das bunte Ambiente und bleibt am Schild mit den Hausgebräuchen des Wirtshauses Stadtpark hängen. Was nicht alles verboten ist! Zelten und grillen und rauchen und Alkohol sowieso. Tut mir leid, sagt sie zum Schild, man kann nicht immer alle Regeln befolgen. Besonders nicht, wenn man Geburtstag hat und sich seine Festgäste denken muss.

Sie nimmt eines der beiden Gläser mit dem feinen Getränk, hebt es und stößt mit dem anderen an. Auf dich, Erna, und deine nächsten 75 Jahr. Bleib gesund und lass dir das Leben nicht verbieten.

Foto: chrim

© Christine Mayr 2021-11-23

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