Gedankensprünge
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Mein Kopf spielt verrückt. Wie immer, wenn ich nicht schlafen kann. Die Gedanken drehen Pirouetten, springen Doublegrabs, schrauben sich zu vierfachen Rittbergern und hüpfen von großen Schanzen. Übermütig knabbern sie an ihren Goldmedaillen und rufen mir zu: Schreib einen Roman! Einen utopischen! Einen über eine Sprache, in der es kein Gezetere ums Getschendere gibt. Eine Sprache wie Englisch, nur auf Deutsch. In der es nur einen Artikel gibt: das. In der das Mensch wirklich alle meint: Weiblein, Männlein und alle dazwischen oder darüberhinaus. In der sich das Freund nicht entscheiden muss, ob es der Freund oder die Freundin sein möchte.
„Ja“, sage ich, dem Vorschlag meiner Gedanken nicht abgeneigt. Aber Moment. Klingt das Freund nicht immer noch nach Bart und Haaren auf der Brust, nach Schniedel und Gockelgehabe? Meine Gedanken fahren Slalom und rasen durch Eiskanäle. Sie greifen beim Big Air nach dem Brett und landen mit einer Idee: eine neue Endung! Eine neue Endung muss her. Eine, die weder maskulin noch feminin ist, sondern einfach nur … human. „Ihr habt gut reden“, sage ich und zucke mit den Schultern. „Ihr seid nicht hundemüde, sondern wohl noch in der Peking-Zeit. Lasst mich in Ruhe. Bei mir ist es fünf Uhr früh und ich möchte endlich schlafen.“
Sie lassen mich natürlich nicht in Ruhe. Sie haben gerade High Noon und warten ausgeschlafen auf meine Erfindung in spe. „Was machen wir denn da?“, frage ich meine Muse und streichle sein kühles Fell. Nemorino ist gerade von seiner Gartenarbeit heimgekommen und schaut mich erwartungsvoll an. Er-sie-sie-er, die-der-der-die ticktackt es in meinem Kopf und als ich mich zu meinem Kater beugen will, um ihn zu streicheln, habe ich plötzlich einen Bleistift in der Hand. Er kritzelt übers Papier und auf einmal steht da Bäckir. Das Bäckir. Meine Gedanken sind schlagartig still, nach dem Cab Double 1260 sicher gelandet. „Und warum nicht Bäckor, wie meine Enkelin immer sagt? Oder Bäckum, sächlich wie das Gymnasium?“, frage ich meine Muse. „Weil ir das Schönste aus beiden Welten vereint. Das i von der Bäckerin, das r vom Bäcker“, antwortet das Musir.
Ich öffne eine Excel-Datei, um mir das Wort zu notieren und die neue Endung an anderen auszuprobieren. Bäckir, schreibe ich in ein Feld, Bäckirs in das nächste. Es gibt ja schließlich nicht nur ein Bäckir. Zeilenwechsel. Welches Wort könnte ich jetzt ausprobieren? Freundir, schreibe ich, Freundirs. Nächste Zeile. Journal … tippe ich und Excel schlägt vor, es mit … istir zu ergänzen. Hä? Ich klicke auf die Entertaste und mein Computer fühlt sich bestätigt: Journalistir steht jetzt da, schwarz auf weiß. Lehr… versuche ich und – ja! – das Programm macht Lehrir daraus. Nicht Lehrer oder Lehrerin. Lehrir. Mein Blechtrottelir hat es also sofort geschnallt.
Wenn es derart einfach ist, dem Tschendern zu entkommen, dann … Dann brauche ich eigentlich nur mehr das Roman zu schreiben.
© Christine Mayr 2022-02-24
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