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#1sommer1buchtirol

Geschmacklos

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Geschmacklos | story.one

Er wirft es mir heute noch vor, ein Vierteljahrhundert später. Geschmacklos sei meine Äußerung gewesen, kränkend.

„Ich habe mich so bemüht“, sagt er dann und ich weiß, dass das stimmt. Er hatte eine schöne Route ausgesucht, ohne Hütte, ohne viel anderes Wandervolk, mit kicherndem Bach, bewältigbaren Steigungen, blühenden Almrosen, goldschimmernden Steinen und Gletscherzungen unter majestätischen Gipfeln.

Ich hatte in der Früh meinen Rucksack mit gschmackigen Stärkungen vollgepackt. Zwei Paar Landjäger, 24 Monate lang gereifter Käse, deftiges Schwarzbrot, semi-hart gekochte Eier und Mannerschnitten. Mit delikaten Geschmacksrichtungen bin ich nicht so auf Du und Du. Ich brauche Kräftiges, Rasses zum Schmecken, denn mein Sinn für Geschmäcker ist lädiert, seit mein Geruchssinn verschwunden ist. Damit ist mir Möglichkeit genommen, feine Nuancen von Ess- und Trinkbarem wahrzunehmen. Nur was die Zunge an Empfindungen hergibt, kann ich schmecken: Süßes und Saures, Salziges und Bitteres. Mir teuren Wein zu kredenzen ist ebenso vergebliche Liebesmüh wie raffiniert zusammengestellte Kräutermischungen. Deshalb bringt mich die Frage „Wie schmeckt’s dir?“ eines bemühten Kochs regelmäßig in Verlegenheit. Dazu kommt, dass ich nicht zur Diplomatie geboren bin und darin auch nicht ausgebildet wurde. Deshalb brachte mich seine Frage „Und, wie schmeckt dir der Tee?“ in arge Verlegenheit.

Wir saßen auf einem flachen, bemoosten Felsen und hatten unsere heiß gelaufenen Füße in das kühle Wasser einer Sandbucht gestellt. Ich packte die Jause aus, er die Thermoskanne mit Tee. „Kräutertee“, sagte er, „die Kräuter habe ich selbst gesammelt. Wie ist er?“ Ich nahm einen vorsichtigen Schluck, dann noch einen und sagte schließlich: „Heiß und nass“.

Unsere zarte Beziehungsanbahnung war damit akut gefährdet. Er schaute mich entgeistert an, eine tiefe Furche auf der Stirn. „Heiß und nass?! Das ist alles, was dir zu meinem köstlichen Tee einfällt?“ „Tut mir Leid“, sagte ich, „ich habe keinen Geruchssinn“ und hoffte, das Thema wäre damit ein für alle Mal erledigt.

War es aber nicht. Denn ein fehlender Geruchssinn ist für niemanden sichtbar oder hörbar. Das kann man schon mal vergessen. Auch als liebender Mann. Und so sind wiederkehrende Enttäuschungen unausbleiblich.

Als er am Sonntag zum Kaffee kam, sagte er, „ich habe dir etwas mitgebracht, eine Überraschung. Mach die Augen zu.“ Ich schloss die Augen und wartete. Nach einer Weile hörte ich seine Stimme, voller Erwartungshoffnung. „Und?“. „Was, und?“, fragte ich und öffnete die Augen. Auf seiner ausgestreckten Hand stapelten sich hübsche Cantuccini. „Dieser Duft!“, sagte er und fächelte ihn mir unter die Nase. „Herrlicher Mandelduft. Riechst du ihn nicht?“

Nein. Ich weiß immer noch nicht, wie frische, hausgebackene Cantuccini riechen. Aber dass sie im Mund herrlich knisternd zerbersten, das weiß ich. Und ich genieße es.





© Christine Mayr 2020-07-25

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