Gott sieht alles
- 97

A1 hat mich wählen lassen. Zwischen neuer TV-Box und Abschalten des Fernsehangebots. Natürlich haben sie es anders formuliert. So, als wollten sie mir ein Zuckerl schenken. Hat mich das schon misstrauisch gemacht. Schließlich sind wir in der Volksschule circa wöchentlich davor gewarnt worden, von fremden Männern Süßigkeiten anzunehmen. Die führen Böses im Schilde!, hat die Lehrerin gesagt und ernsthaft besorgt dreingeschaut. Okay, A1 ist kein Mann, trotzdem kann ich nicht behaupten, ich wäre nicht gewarnt gewesen. Aber die Aussicht, mir einen anderen Fernsehanbieter suchen zu müssen, war verschreckender.
Ja mei, so ist das halt im modernen Dienstleistungsleben, habe ich mir gesagt und die neue TV-Box angeschlossen. Ging eh. So viel Kundenfreundlichkeit haben sie drauf, die Männlein und Weiblein bei A1, dass ich es zwischen Anleitungsbroschüre und Bildschirmmeldungen schaffte, an einem Nachmittag zu einem Fernsehbild zu kommen. Nach einem weiteren Halbtag und zahlreichen Flüchen gelang es mir sogar, die neue Fernbedienung mit dem TV-Gerät zu verkuppeln. Die dafür nötigen Einstellungen waren hinter einer Seite voll mit Bezahlfunktionen versteckt. Nun dient das alte Fernsteuerungsgerät als Podest für die TV-Box, damit ich sehen kann, ob das grüne Ich-bin-an-Lichtlein oder das rote Bin-ich-nicht-Signal leuchtet, ohne dass ich mich dafür auf den Boden legen muss.
Nach den zwei Nachmittagen war ich’s zufrieden, denn der Fernsehabend war gerettet. Vorausgesetzt, ich wäre in der Lage, das richtige Icon auf der Startseite anzuklicken. Während ich versuchte mich zu erinnern, welches das war, stolperten meine Gedanken über eine Meldung, die beim Installieren aufgetaucht war und der ich in dem Moment keine Beachtung geschenkt hatte: Der Fernseher könne mir mit der neuen Software Vorschläge machen, was ich anschauen sollte. Auf Basis meiner Sehgewohnheiten. Werde ein bisschen dauern, bis er das kann, denn zuerst muss er ja erfahren, was ich so schaue, aber dann.
Jetzt also auch der Fernseher. Jetzt bespitzelt der mich auch noch. Er war einige Jahre lang mein Hort der Spionagefreiheit gewesen, zwischen Computer und Handy, die schon verdammt genau wissen, welche Spiele ich spiele und welche Reiseziele mir taugen. Vorbei ist’s mit dem Unbeobachtet-Sein im Fernsehzimmer.
Doch auch darauf hat mich die katholische Grundausbildung in der Volksschule vorbereitet. Gott sieht alles, hat es noch öfter geheißen als Achtung vor den Zuckerl-Männern. Gott sieht alles und immer. Und er bestraft dich auch für all die kleinen und großen Sünden, von denen deine Eltern nichts wissen. Wenigstens da hinkt A1 hinterher: Die Auswahl der Höllenqualen ist noch Sache des (nicht immer) lieben Gottes.
© Christine Mayr 2021-10-21
Kommentare
Jede*r Autor*in freut sich über Feedback! Registriere dich kostenlos,
um einen Kommentar zu hinterlassen.