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Grüß Gott, Göttin

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Grüß Gott, Göttin | story.one

„Grüß Gott“, sagt die Frau mit dem struppigen Hund.

Unten im Tal läuten sich die Glocken die Seele aus ihrem ehernen Leib und die Gewehrsalven der Schützen melden unmissverständlich: Hoher Feiertag! Prozession! Mariä Himmelfahrt! Politiker aller Couleurs folgen Bischof und Baldachin zum Dom, allen voran Bürgermeisterin und Landeshauptmann. Die spalierstehende Bevölkerung bekreuzigt sich und kniet nieder. Katharina weiß, dass manche der Politiker damit ein Problem haben. Mit dem kirchlichen Prozessieren. Manche auch mit der vor ihnen knienden Wählerschaft.

„Grüß Gott“, sagt sie zu der Frau mit dem struppigen Hund. Etwas zeitverzögert, denn der Gruß ist ihr jahrelang nicht mehr über die Lippen gekommen.

Früher war Grüß-Gott-sagen Alltagsroutine. Jeder sagte es und keine dachte sich etwas dabei. „Grüß Gott, Frau M., was darf’s denn sein?“, fragte die Speckfrau. „Grüß Gott, Fräulein, eine schöne Bluse haben Sie da. Hat die Ihre Mutter genäht?“ Es war noch die Zeit des Sie- und Fräulein-Sagens. Deshalb war das erwachsen gewordene Fräulein irritiert, als der Busfahrer ins Stubai „Griaß di, Madl“ sagte. War das jetzt beleidigend? Hielt er das Madl noch für ein Kind? Und es sagte „Grüß Gott“. „Guten Tag“ ging gar nicht. Das klang nach Piefke und Saga und Landesverrat.

Doch dann kam die Zeit, in der „Grüß Gott“ plötzlich gar nicht mehr ging. Und zwar an ihrem neuen Arbeitsplatz. „Ich werd’s ihm ausrichten, wenn ich ihn sehe“, sagte ein Kollege. Und ein anderer, strenger Hüter der Parteiideologie, gab dem nicht mehr ganz fräuleinhaften Fräulein wenig subtil zu verstehen, dass ein solch religiös-provinzieller Gruß in den aufgeklärten Kreisen der Partei politically absolut nicht correct war. Es galt also, Neutrales zu finden. „Guten Morgen“, „guten Abend“, „Mahlzeit“, das ging ideologiekonfliktfrei und mit der sich vermehrenden Duzerei wurde es ohnehin leicht. „Hallo“ ging immer. Irgendwann schwappte Fernöstliches auch nach Tirol über und brachte neben Lotussitz, herabschauendem Hund und Thai Curry auch „Namasté“ in Seminarräume, Küchen und sprachliche Gebräuche. „Namasté, ich grüße die Göttin in dir“, sagte die Yogalehrerin und Katharina ging ein Licht auf. „Grüß Gott“, sagte sie daraufhin zum Herrn Chefideologen, „ich grüße den Gott in dir. Du brauchst es ihm nicht auszurichten, wenn du ihn siehst.“

„Grüß Gott“, sagt sie deshalb zu der Frau mit dem struppigen Hund. Und sieht das Schild am Wegesrand. „Grüß Gott“ steht darauf. Gestern noch hat es „Grüß Göttin“ geheißen. Doch das geht in Tirol noch weniger als „Guten Tag“.

Foto: Mor Shani on Unsplash

© Christine Mayr 2022-12-07

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