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Klein-Ping

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Klein-Ping | story.one

Solange meine Oma lebte, wohnte es bei ihr. Quadratisch, nutellabekleckert und heiß geliebt. Als sie starb, holte ich es aus seiner Spielzeuglade und legte es in die Nostalgieschachtel, die oben, hoch oben, auf meinem Bücherregal thront. Und vergaß es. Das Pixi-Büchlein Nummer 52.

Eines Tages holte mich der schwarze Vogel ein und vergiftete mein Leben mit seinem depressiven Atem. Nichts konnte vor ihm bestehen. Alle Verkleidungen, die ich im Lauf meines Lebens anprobiert hatte, riss er mir vom Leib. Nackt stand ich da und sah, dass mich keine einzige der Rollen, die ich gespielt hatte, glücklich gemacht hatte. Mutter nicht, Ehefrau nicht, auch nicht Betschwester, Yogini oder Grüne oder Rote. Ich sah mich um, orientierungslos, wohin ich mich wenden könnte, um eine neue Rolle zu finden, um zu sehen, was ich mit diesem angefangenen Leben anstellen könnte. “Dir geht es wie mir”, hörte ich da ein kleines Stimmchen vom hohen Regal herab. “Ich habe das auch gemacht. Ich war Bär, Strauß, Pfau, Schlange und Flamingo, um den Kindern zu gefallen. Aber sie haben mich nur ausgelacht.”

“Ja”, sagte ich und stieg auf die Leiter, um die Kiste mit dem Büchlein zu holen. Ausgelacht bin ich nicht worden, aber immer war ich unglücklich. “Weil du nicht du warst”, sagte Klein-Ping. “So wie ich lange Zeit nicht ich war.”

“Und? Wie bist du dann du geworden?”

“Oh”, lachte er aus seinen vergilbten Seiten heraus, “mir hat der Zoo ein Schwimmbecken gebaut. Darin habe ich mich pinguinwohl gefühlt. Ich bin geschwommen, habe getaucht, bin auf dem Bauch ins Wasser gerutscht und habe es sooo genossen.”

“Und dann sind die Kinder bei dir stehen geblieben und haben dir zugeschaut?”

“Oh ja! Angelaufen sind sie gekommen. Aber das war mir dann schnurzpiepegal, weil ich so glücklich war. Meine Eltern haben gesagt, endlich benimmt er sich, wie es sich für einen Pinguin gehört und haben aufgehört, sich für mich zu schämen. Das war mir aber auch egal. Ich wollte nur mehr eines: ganz und gar Pinguin sein.”

Ich nickte nachdenklich. “Meinst du, mir baut auch jemand einmal ein Schwimmbad?”

“Hihi”, gickselte Klein-Ping, “was willst du denn mit einem Schwimmbad? Du bist ja ein Mensch. Du meinst doch hoffentlich nicht, ein Wasservogel werden zu müssen? Dann wären wir wieder da, wo wir angefangen haben.”

“Da hast du Recht, darüber muss ich nachdenken. Was mein Schwimmbecken sein könnte.”

“Blödsinn”, sagte Klein-Ping, “nachdenken bringt gar nichts”. Und er warf sich juchzend in sein himmelblaues Wasser. Als er wieder auftauchte, hatte er einen Bleistift im Schnabel. “Für dich”, sagte er, “weil ich dich mag”.

“Danke”, sagte ich, “das ist sehr nett von dir. Dafür stecke ich dich jetzt nicht mehr in die Schachtel zurück, sondern stelle dich aufs Bücherregal, in die Reihe mit den Philosophen."

Als ich begann, mit dem Bleistift Geschichten zu kritzeln, fühlte ich mich auf einmal pinguinwohl. Ich habe seither nie mehr versucht, in das Gewand von jemand anderem zu schlüpfen.

© Christine Mayr 2021-10-22

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