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Können ist kein Argument

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Können ist kein Argument | story.one

Seit heute weiß ich es.

Da sind diese Sandalen an mir vorbeigelatscht. Die gleichen Sandalen, die Kollege R trug, als ich an meiner ersten Regierungsbesprechung teilnahm. Zwei Tage, nachdem ich meinen neuen Job angetreten hatte.

Kollege R ist ausgewiesener Zahlenexperte und versteht es meisterhaft, trockene Statistiken mit seinen Worten zum Leben zu erwecken. Sodass sogar ich, die Statistik-Inkompatible, die Pressefrau, verstand, worum es ging.

„Einen guten Regierungssekretär habt ihr da“, sagte ich in der Pause zu Kollegin T. „Hat mir gefallen, wie er den Zahlenfriedhof erklärt hat.“

„Hast du seine Schlapfen gesehen?“, fragte T. „So sitzt der neben der Regierung. Das ist letztklassig.“

„Ja, aber …“, versuchte ich.

„So einer hat bei uns nichts verloren“, unterbrach sie mich und ich entschied, mich meinem Kaffee zu widmen. Unsympathische Einzelmeinung, dachte ich.

Bis ich am Nachmittag dieses E-Mail bekam. Ein Mail an den gesamten Parteivorstand, cc an mich.

„Haben wir das nötig“, fragte der Absender mit zwei Fragezeichen, „eine Akademikerin für die Pressearbeit einzustellen?? Wir, die Stimme der Arbeiterklasse. Haben wir keine eigenen Leute? Müssen wir wirklich eine von außen nehmen?“

Dass ich mein Handwerk von der Pieke auf gelernt hatte – kein Argument. Dass ich jahrelang Erfahrung gesammelt hatte – kein Argument. Dass ich, das Arbeiterkind, meinen Doktor gemacht hatte – ein Argument gegen mich.

An diese Tonart musste ich mich gewöhnen.

Der Kandidat hat sich gut präsentiert? Kein Argument, ihn zu wählen. Weil der Konkurrent länger an der Basis gewerkt hat.

F auf einem wählbaren Platz positionieren, weil er es versteht, Leute zu begeistern? Kein Argument. Weil er keine Frau ist.

S ins Landtagsteam aufnehmen, weil sie Gesetze sinnerfassend lesen kann und weiß, wie man Anträge und Anfragen formuliert? Kein Argument. Weil sie aus dem falschen Bezirk kommt.

E mit den Gesundheitsagenden betrauen, weil sie das zehn Jahre lang gut gemacht und tausende Vorzugsstimmen bekommen hat? Kein Argument. Weil eine Junge hermuss.

Ein Anforderungsprofil für politisches Personal? Gibt es nicht. Was es gibt, sind Quoten. Quoten für Bezirke und Bundesländer, Quoten für Männer und Frauen, Quoten für Alte und Junge. Was die Einzelne kann, ob der Einzelne etwas kann – kein Argument.

Das kränkt. Nicht nur mich. Nicht nur in den Parteien, für die ich gearbeitet habe. Seit diese Sandalen an mir vorbeigelatscht sind, weiß ich es.

© Christine Mayr 2021-08-21

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