Mamas Rumkugeln
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Sie waren die beständigste Weihnachtszutat meines jungen Lebens. Kokosstreuselweiß und schokoladeblättchenschwarz saßen sie alle Jahre wieder in ihren goldfarbenen Hütchen auf einem großen Teller, den Mama zur Bescherung auf den Tisch stellte. Je älter ich wurde, desto leichter fiel mir die Entscheidung, was zuerst: des Christkinds Geschenke oder Mamas Rumkugeln? Zuerst eine von den dunklen, dann eine von den hellen, dann das größte Paket. Ich schob mir eine bis zur Hälfte zwischen die Zähne, ließ meine Zunge über die blättchen- oder streuselraue Oberfläche wandern, schloss die Lippen und teilte den Genuss in zwei gleiche Teile. Samten süß und bitter schmolz die Kakaocreme am Gaumen, ahnte die Zunge den braunen Rum und ertastete die Haselnussspäne.
Als ich von zuhause auszog, fragte ich Mama nach dem Rezept. Zu Weihnachten, sagte sie. Vor Weihnachten fragte ich sie wieder. Heuer nicht, sagte sie, ich habe schon genügend gemacht. (Als ob es von ihren Rumkugeln je genug geben könnte.) Im Jahr darauf hatte ich Prüfungsstress und ein weiteres Jahr später hatte sich meine Mama entschieden: Das Rezept bekommst du erst an meinem Sterbebett. Oh meingott, sagte ich, das dauert ja noch ewig!
Was mir mit meinen fünfundzwanzig Jahren ewig erschien, waren letztlich drei Jahre. Mama wurde immer weniger und als ihr Lager so aussah, wie ich mir ein Sterbebett vorstellte, hatte ich nicht die Chuzpe, sie nach dem Rezept zu fragen. Obwohl Friedrich Torbergs Tante Jolesch das Rezept ihrer köstlichen Krautfleckerl erst mit ihrem letzten Atemzug weitergegeben hat. Sie hat ihre Lieblingsnichte zu sich gewunken und ihr mit ersterbendem Atem ins Ohr geflüstert: Ich habe nie genug davon gemacht. Literarisch hat das Charme, aber in der Wirklichkeit, in meiner Wirklichkeit, in der Wirklichkeit meiner sterbenden Mama war mir nicht nach Rumkugelrezept. Und sie hatte andere Sorgen. Ich möchte ein schmiedeeisernes Kreuz, sagte sie und eine Woche später, an einem freundlichen Septembertag, trugen wir sie zu Grabe. Nun hatte ich andere Sorgen.
Aber kurz vor Weihnachten fielen mir ihre Rumkugeln wieder ein. Die wird es nie wieder geben. Nie mehr Kakaocreme mit Kokos-Rum-Geschmack in goldenen Förmchen. Und ich konnte endlich weinen. Endlich konnte ich um meine Mama weinen. Um den blau oder rot oder silbern geschmückten Baum, um die Goldfäden, die während der Adventzeit auf dem Teppich lagen und vom Fleiß der Engel zeugten, um Mamas launige Geschichten nach dem zweiten Glas Weißwein. Wie wird das heuer werden, fragte ich mich bang. Weihnachten ohne Mama. Weihnachten ohne Rumkugeln.
Doch sie hatte vorgesorgt. Unter dem Christbaum lag ein Kuvert. Sie hatte mir das Rezept aufgeschrieben. Ihre runden Buchstaben zittrig von der Anstrengung des Krankseins. “Für dich” stand auf dem Kuvert und sie hatte sogar ein goldenes Sternchen aufgeklebt.
Foto: Heather Barnes on Unsplash
© Christine Mayr 2021-12-06
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