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#1sommer1buchtirol

Man reiche mir die Brücke

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Man reiche mir die Brücke | story.one

Wenn ich von meinem Bügeltisch aufschaue, sehe ich die Erkerfenster des gegenüberliegenden Hauses, vor denen sich die Oberleitungen der Straßenbahn spannen. Das war und ist immer so - mit Ausnahme des einen Jahres, in dem die Geleise der Tram erneuert wurden.

Wenn ich in diesem Jahr von meinem Bügeltisch aufschaute, sah ich den Kopf eines Dinosauriers, der sich im Fünfminutentakt an meinen Fenstern vorbeischob. Der Kopf gehörte einem Bagger, der sich gefräßig in die Erdschichten wühlte, um alles freizulegen, was alt und gebrechlich in der Tiefe lag und über Jahrzehnte seinen Ver- und Entsorgungsdienst geleistet hatte.

Wenn ich in diesem Jahr das Haus verließ, wusste ich vorher nie, wie der Weg zum Bäcker oder in die Trafik dieses Mal verlaufen und wie er beschaffen sein würde. Gummistiefel waren oft eine gute Wahl, feste Schuhe immer, Sandalen und Hochhackiges nie.

Als ich einmal - ich glaube, es war ein Gummistiefeltag - die Haustüre öffnete, um Brotnachschub zu holen, stoppte es mich auf der Schwelle. Vor mir, wo mich sonst der Gehsteig empfing, war – nichts. Ein mannstiefes Nichts bis zur Mitte dessen, was einmal Straße gewesen war und hoffentlich wieder einmal sein würde. Zwei Bauarbeiter standen in der Tiefe dieses Nichts.

„Hallo?“, rief ich. Einer der Männer kippte seinen Helm nach hinten und gab ein Gesicht frei. Eines, das breit grinste. „Muasch außa?“, fragte er in einem Tirolerisch so breit wie das Grinsen. „Ja …“, sagte ich, war mir aber plötzlich nicht mehr sicher. „ … eigentlich schon“, setzte ich etwas verunsichert hinzu und überlegte, ob der Brotbedarf nicht aufgeschoben werden konnte. „Ja, wenn du muasch, dann muasch. Wart a bissl“, sagte der Baugrubengräber und klopfte bei seinem Kollegen mit dem Ellbogen an. Der hatte unverdrossen mit seiner Spitzhacke auf die Kellerwand unseres Hauses eingehackt und schaute jetzt zu mir herauf. Sein Grinsen deutlich weniger breit. „Muass des sein?“, sagte er und stellte seine Hacke entnervt an die Wand. „Ja, des muass“, befahl der Kollege und behände wie zwei Katzen kletterten die beiden aus dem Bauloch heraus. „Wir reichen dir eine Brücke“, sagte der mit dem breiten Grinsen, als ob er seinen Schiller auswendig gelernt hätte.

Eine Brücke?, dachte ich skeptisch und sah mich schon auf einem schmalen, schwankenden Brett die drei Meter zum festen Boden hinüberzittern. Gummisohlen auf nassem Holz, ob das gutgehen würde? Sollte ich nicht doch besser auf die Bäckerei verzichten?

Doch es kam nobel. Von links fuhr eine Maschine heran, an deren Dinosaurierkopf eine hölzerne Brücke an Riemen baumelte. Ein echtes Teil, mindestens einen Meter breit und mit Geländer. Sie wurde über die Grube gehievt, von den beiden Helmmännern an der Schwelle meines Hausausgangs verankert und auf der anderen Abgrundseite festgeklopft. „Bitte schön“, sagte breites Grinsen und ich spazierte hinüber, als ob aus meinen Gummistiefeln Prinzessinnenpumps geworden wären.






© Christine Mayr 2020-08-30

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